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Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition)

Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition)

Titel: Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Konstantin Wecker
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sein
    still liegen,
    den Regen riechen,
    rasseln lassen,
    pitschnass sein,
    ganz still liegen,
    die Hand
    weiß
    in den Sand wühlen
     
     
    Du aber geh in den Wind
    denke an zarte Begebenheiten,
    deinen Vermutungen gib dich
    und abends
    wenn du Hoffnung löffelst,
    lass dich fortweben
    mit dem Wort an der Leine
    Anfang
     
    Anfang.
    Du hast lange geschwiegen,
    dann,
    der Schrei
    (jener weltberühmte
    oft zitierte Schrei),
    die Bäume,
    die Gesichter,
    du wirst ein guter Junge genannt werden,
    du wirst ein fleißiges Mädchen genannt werden,
    der Pfarrer,
    die Tanten
    mit ihren triefenden Stirnen,
    mit ihrem Gespür für das, was immer war
    und wem er jedenfalls sehr ähnlich sieht,
    du spürst ihren Sahnetortenatem,
    du lernst,
    dich vor den Menschen zu ekeln.
    Anfang.
    Da ist ein großer Himmel,
    da sind Hund und Katze,
    Vogel und Auto,
    Kühlschrank und Vater
    und Regen,
    ein manchmal harter,
    ein manchmal schmiegsamer Regen,
    da sind
    die Ahnen,
    die Gebote,
    die Verbote
    die Zeigefinger,
    du wirst ein widerspenstiger Junge genannt werden,
    du wirst ein unmoralisches Mädchen genannt werden,
    die Moralisten werden dich Hurenbock heißen,
    die Nymphomaninnen werden dich Hure nennen,
    du versuchst,
    Wälder schön zu finden,
    Zärtlichkeit vor den Verstand zu stellen,
    ahnst,
    der Geruch von frischer Erde ist wichtig,
    dann wird es dir verschlossen,
    dich zu öffnen.
     
    Anfang.
    So viele fremde Freunde
    mit ihren schönen Nasen,
    mit ihren weichen Mündern,
    sie brauchen dich,
    sie sprechen zu dir
    mit ihren spitzen Nasen,
    mit ihren klobigen Mündern,
    tuscheln und zischen,
    jetzt eine Höhle bauen,
    sich schwarz färben,
    Pfeil und Bogen und Asche im Gesicht
    und dann los:
    den Vätern in den Hintern treten,
    Gedichte schreiben,
    Reden halten,
    tun,
    du wirst ein zerstörerischer Mann genannt werden,
    du wirst eine ungetreue Frau genannt werden.
     
    Anfang.
    Noch weißt du nichts
    von den kleinen klebrigen Hotels,
    von den Wohnküchen,
    von denen,
    die ihr Leben aus dem Rinnstein saufen,
    von den verderblichen Lichtern
    über den Eismeeren,
    von den süßlichen Gerüchen in den Lazaretten,
    weißt noch nichts
    von den Gebeten in den Gefängnissen,
    von den Briefen der Töchter an ihre
    verschollenen Väter,
    von all diesen Nächten und Tagen,
    von alledem
    weißt du noch nichts.
    Ich hab geträumt
     
    Heut hab ich geträumt, am 15.10.
    beginnt der Krieg. Der Himmel ist rot.
    Aus den Flüssen steigen mannsgroße Frösche
    und die Ratten programmieren den Tod.
     
    Die Bürger pressen die Aktentaschen
    pflichtbewusst an die Köpfe. Die Nacht,
    der Pilz und das kreischende Licht
    haben mich um meinen Schlaf gebracht.
     
    Aufstehen. Müde. Etwas verbraucht   –
    war das nun Prophetie?
    Ein Blick aus dem Fenster: Alles wie sonst.
    Passieren kann so was ja nie.
    Zueignung
     
    Geboren in zwar knappen Zeiten,
    aber keine Komplikationen im
    Mutterleib.
    Kein Kaiserschnitt,
    nichts, was den Ausgang versperrt hätte,
    nichts Aufregendes, diese Geburt:
    farblose Laken und eine Hebamme mit
    Raucherbein.
    Wär gerne am Amazonas zwischen zwei Regenzeiten
    in die Welt geglitten
    oder in einer Waschküche
    heimlich als
    Makel einer zwölfjährigen Mutter
    oder in einem Luftschutzkeller
    unter den Trompetensalven der Bomben   –
    hätte gern mehr Action gehabt bei meiner Geburt.
    Versuche dies nachzuholen:
    Gedichte schreiben,
    endlose Triller am Klavier
    zu häufiges Lächeln, wenn Mädchen den Raum betreten,
    anstatt
    sich einfach unter die warm und weich tropfende Sonne zu legen
    und die Menschwerdung endlich einmal zu
    vergessen.
    Venedig
     
    Als ob an ihren angefressnen Pfählen
    die Stadt mit letzter Kraft sich stützen wollte,
    so taumeln die Paläste mit den Säulen
    aus feuchtem Marmor steil zum Meer. Als rollte
     
    ein großer Donner aus dem Grund der Erde,
    der diese müde Stadt zum Sinken bringt.
    Als stiegen aus den Flüssen dunkle Pferde,
    die alles niedertrampeln: und Venedig sinkt.
     
    Und mit ihm sinken alle Illusionen
    der großen Herrschaft einer kleinen Welt:
    Galeeren, Filmfestspiele und Inquisitionen.
    Das Spiel ist aus. Der Wasservorhang fällt.
     
    Du träumst vielleicht und fährst in schwarzen Booten
    noch einmal die vertanen Welten ab,
    und du befreundest dich mit all den Toten,
    die diese Stadt ins Meer gespien hat,
     
    die steigen noch ein letztes Mal ins Leben
    und feiern Feste, und mit festem Tritt
    und dunklen Rufen lassen sie die Erde beben.
    Es ist so weit: Venedig sinkt, und du

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