Jeder Augenblick ist ewig: Die Gedichte (German Edition)
sein
still liegen,
den Regen riechen,
rasseln lassen,
pitschnass sein,
ganz still liegen,
die Hand
weiß
in den Sand wühlen
Du aber geh in den Wind
denke an zarte Begebenheiten,
deinen Vermutungen gib dich
und abends
wenn du Hoffnung löffelst,
lass dich fortweben
mit dem Wort an der Leine
Anfang
Anfang.
Du hast lange geschwiegen,
dann,
der Schrei
(jener weltberühmte
oft zitierte Schrei),
die Bäume,
die Gesichter,
du wirst ein guter Junge genannt werden,
du wirst ein fleißiges Mädchen genannt werden,
der Pfarrer,
die Tanten
mit ihren triefenden Stirnen,
mit ihrem Gespür für das, was immer war
und wem er jedenfalls sehr ähnlich sieht,
du spürst ihren Sahnetortenatem,
du lernst,
dich vor den Menschen zu ekeln.
Anfang.
Da ist ein großer Himmel,
da sind Hund und Katze,
Vogel und Auto,
Kühlschrank und Vater
und Regen,
ein manchmal harter,
ein manchmal schmiegsamer Regen,
da sind
die Ahnen,
die Gebote,
die Verbote
die Zeigefinger,
du wirst ein widerspenstiger Junge genannt werden,
du wirst ein unmoralisches Mädchen genannt werden,
die Moralisten werden dich Hurenbock heißen,
die Nymphomaninnen werden dich Hure nennen,
du versuchst,
Wälder schön zu finden,
Zärtlichkeit vor den Verstand zu stellen,
ahnst,
der Geruch von frischer Erde ist wichtig,
dann wird es dir verschlossen,
dich zu öffnen.
Anfang.
So viele fremde Freunde
mit ihren schönen Nasen,
mit ihren weichen Mündern,
sie brauchen dich,
sie sprechen zu dir
mit ihren spitzen Nasen,
mit ihren klobigen Mündern,
tuscheln und zischen,
jetzt eine Höhle bauen,
sich schwarz färben,
Pfeil und Bogen und Asche im Gesicht
und dann los:
den Vätern in den Hintern treten,
Gedichte schreiben,
Reden halten,
tun,
du wirst ein zerstörerischer Mann genannt werden,
du wirst eine ungetreue Frau genannt werden.
Anfang.
Noch weißt du nichts
von den kleinen klebrigen Hotels,
von den Wohnküchen,
von denen,
die ihr Leben aus dem Rinnstein saufen,
von den verderblichen Lichtern
über den Eismeeren,
von den süßlichen Gerüchen in den Lazaretten,
weißt noch nichts
von den Gebeten in den Gefängnissen,
von den Briefen der Töchter an ihre
verschollenen Väter,
von all diesen Nächten und Tagen,
von alledem
weißt du noch nichts.
Ich hab geträumt
Heut hab ich geträumt, am 15.10.
beginnt der Krieg. Der Himmel ist rot.
Aus den Flüssen steigen mannsgroße Frösche
und die Ratten programmieren den Tod.
Die Bürger pressen die Aktentaschen
pflichtbewusst an die Köpfe. Die Nacht,
der Pilz und das kreischende Licht
haben mich um meinen Schlaf gebracht.
Aufstehen. Müde. Etwas verbraucht –
war das nun Prophetie?
Ein Blick aus dem Fenster: Alles wie sonst.
Passieren kann so was ja nie.
Zueignung
Geboren in zwar knappen Zeiten,
aber keine Komplikationen im
Mutterleib.
Kein Kaiserschnitt,
nichts, was den Ausgang versperrt hätte,
nichts Aufregendes, diese Geburt:
farblose Laken und eine Hebamme mit
Raucherbein.
Wär gerne am Amazonas zwischen zwei Regenzeiten
in die Welt geglitten
oder in einer Waschküche
heimlich als
Makel einer zwölfjährigen Mutter
oder in einem Luftschutzkeller
unter den Trompetensalven der Bomben –
hätte gern mehr Action gehabt bei meiner Geburt.
Versuche dies nachzuholen:
Gedichte schreiben,
endlose Triller am Klavier
zu häufiges Lächeln, wenn Mädchen den Raum betreten,
anstatt
sich einfach unter die warm und weich tropfende Sonne zu legen
und die Menschwerdung endlich einmal zu
vergessen.
Venedig
Als ob an ihren angefressnen Pfählen
die Stadt mit letzter Kraft sich stützen wollte,
so taumeln die Paläste mit den Säulen
aus feuchtem Marmor steil zum Meer. Als rollte
ein großer Donner aus dem Grund der Erde,
der diese müde Stadt zum Sinken bringt.
Als stiegen aus den Flüssen dunkle Pferde,
die alles niedertrampeln: und Venedig sinkt.
Und mit ihm sinken alle Illusionen
der großen Herrschaft einer kleinen Welt:
Galeeren, Filmfestspiele und Inquisitionen.
Das Spiel ist aus. Der Wasservorhang fällt.
Du träumst vielleicht und fährst in schwarzen Booten
noch einmal die vertanen Welten ab,
und du befreundest dich mit all den Toten,
die diese Stadt ins Meer gespien hat,
die steigen noch ein letztes Mal ins Leben
und feiern Feste, und mit festem Tritt
und dunklen Rufen lassen sie die Erde beben.
Es ist so weit: Venedig sinkt, und du
Weitere Kostenlose Bücher