Jeder stirbt für sich allein
nachmittags war die Briefträgerin Eva Kluge mit ihrem Bestellgang fertig geworden. Bis gegen vier Uhr hatte sie noch mit der Abrechnung von Zeitungsgel-dern und Strafporti zu tun gehabt: War sie sehr müde, verwirrten sich ihr die Zahlen, und sie verrechnete sich immer wieder. Mit brennenden Füßen und einer schmerzenden Öde im Kopf machte sie sich auf den Heimweg; sie mochte gar nicht daran denken, was sie noch alles zu tun hatte, bis sie endlich ins Bett gehen konnte. Auf dem Heimweg erledigte sie noch ihre Besorgungen auf Karten; beim Fleischer mußte sie ziemlich lange anstehen, und so war es fast sechs Uhr geworden, als sie langsam die Stufen ihrer Wohnung am Friedrichshain emporstieg.
Auf der Treppenstufe vor ihrer Tür stand ein kleiner Mann in hellem Mantel und mit Sportmütze. Er hatte ein farbloses Gesicht ohne allen Ausdruck, die Lider waren ein wenig entzündet, die Augen blaß, solch ein Gesicht, das man sofort wieder vergißt.
«Du, Enno?» rief sie und nahm die Wohnungsschlüssel unwillkürlich fester in die Hand. «Was willst du denn bei
mir? Ich habe kein Geld und auch kein Essen, und in die Wohnung lasse ich dich auch nicht!»
Der kleine Mann machte eine beruhigende Bewegung.
«Warum denn gleich so aufgeregt, Eva? Wieso denn gleich so bösartig? Ich will dir doch bloß mal guten Tag sagen, Eva. Guten Tag, Eva!»
«Guten Tag, Enno!» sagte sie, aber nur widerwillig, denn sie kannte ihren Mann seit vielen Jahren. Sie wartete eine Weile, dann lachte sie kurz und böse auf. «Jetzt haben wir uns guten Tag gesagt, wie du wolltest, Enno, und du kannst gehen. Aber wie ich seh, gehst du nicht, was willst du also wirklich?»
«Siehste, Evchen», sagte er. «Du bist 'ne vernünftige Frau, und mit dir kann man 'n Wort reden ...» Er fing an, ihr umständlich auseinanderzusetzen, daß die Krankenkasse nicht länger zahlte, weil er seine sechsundzwanzig Wochen Kranksein rum hatte. Er mußte wieder arbeiten gehen, sonst schickten sie ihn zurück zur Wehrmacht, die ihn seiner Fabrik zur Verfügung gestellt hatte, weil er Feinmechaniker war, und die waren knapp. «Die Sache ist nun die und der Umstand der», schloß er seine Erklärungen, «daß ich die nächsten Tage einen festen Wohnsitz haben muß. Und da habe ich gedacht ...»
Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie war zum Umsin-ken
müde und sehnte sich danach, in die Wohnung zu kommen, wo so viel Arbeit auf sie wartete. Aber sie ließ ihn nicht ein, ihn nicht, und wenn sie die halbe Nacht stehen mußte.
Er sagte eilig, aber es klang immer gleich farblos: «Sag noch nicht nein, Evchen, ich bin noch nicht zu Ende mit meinen Worten. Ich schwöre dir, ich will gar nichts von dir, kein Geld, kein Essen. Laß mich bloß auf dem Kanapee schlafen. Ich brauch auch keine Bettwäsche. Du sollst nicht Arbeit von mir haben.»
Wieder schüttelte sie den Kopf. Wenn er bloß aufhören wollte mit Reden, er sollte doch wissen, daß sie ihm nicht ein Wort glaubte. Er hatte noch nie gehalten, was er versprochen hatte.
Sie fragte: «Warum machst du das nicht bei einer von deinen Freundinnen ab? Die sind dir doch sonst gut genug für so was!»
Er schüttelte den Kopf: «Mit den Weibern bin ich durch, Evchen, mit denen befaß ich mich nicht mehr, mit denen hat's mir gereicht. Wenn ich alles bedenke, du warst doch immer die Beste von allen, Evchen. Gute Jahre haben wir gehabt, damals, als die Jungen noch klein waren.»
Unwillkürlich hatte sich ihr Gesicht bei der Erinnerung an ihre ersten Ehejahre aufgehellt. Die waren wirklich gut gewesen, damals, als er noch als Feinmechaniker
arbeitete und jede Woche seine sechzig Mark nach Haus brachte und von Arbeitsscheu nichts wußte.
Enno Kluge sah sofort seinen Vorteil. «Siehste, Evchen, ein bißchen hast du mich doch noch gerne, und darum läßt du mich auch auf dem Kanapee schlafen. Ich versprech dir, ich mach's ganz schnell ab mit dem Arbeiten, mir liegt doch auch nichts an dem Kohl. Bloß so lange, daß ich wieder Krankengeld kriege und nicht zu den Preußen muß. In zehn Tagen schaff ich's, daß sie mich wieder krank schreiben!»
Er machte eine Pause und sah sie abwartend an. Jetzt schüttelte sie nicht den Kopf, aber ihr Gesicht sah undurchdringlich aus. So fuhr er fort: «Ich will's diesmal nicht mit Magenblutungen machen, da geben sie einem nichts zu fressen in den Krankenhäusern. Ich reise diesmal auf Gallenkoliken. Da können sie einem auch nichts nachweisen, bloß mal röntgen, und man muß keine Steine
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