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Jenseits aller Tabus

Jenseits aller Tabus

Titel: Jenseits aller Tabus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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auszudrücken und sich über Dinge zu freuen.« Lucille ertappte sich dabei, wie sie eine Hand an ihren Hals legte, um das Lederband zu weiten, doch dann erinnerte sie sich, dass Craig es ihr längst abgenommen hatte. Trotzdem fühlte sich ihr Hals wie zugeschnürt an, sie bekam kaum Luft. »Meine Mutter litt an einer seltenen Mischung aus schizoider Persönlichkeitsstörung und Paraphilie.«
    Craig räusperte sich, ihm musste es ähnlich gehen. »Paraphilie, ist das nicht …?«
    »Wird es jetzt zur Gewohnheit, dass du Sätze nicht aussprichst?«, fragte sie neckend, konnte ihre Mundwinkel jedoch nicht einmal dazu bringen, sich ein klein wenig nach oben zu wölben.
    »Du hast recht, normalerweise geht es bei dieser Krankheit um abnorme sexuelle Fantasien«, fuhr sie fort. Inzwischen drückte er ihre Hand so fest zusammen, dass es anfing wehzutun, sie schwieg jedoch, denn der Schmerz lenkte sie von den Stichen in ihrem Brustkorb ab. »Aber das trifft es in meinem Fall nicht genau. Es ging nicht um Missbrauch. Niemals! Die Psychiater stritten sich damals bei der Gerichtsverhandlung, ob meine Mutter wirklich daran litt oder dieses Krankheitsbild nicht auf sie zutrifft.«
    »Wie erklärten sie dann ihre Diagnose?«
    »Bei der Krankheit geht es um zwanghafte sexuelle Verhaltensweisen, und die Ärzte glaubten, allein die Tatsache, dass die Narben nah an meinem Geschlecht sind, könnte diesen Aspekt in ihrem Fall bestätigen.« Nun zitterte ihre Stimme doch. »Meiner Meinung nach trafen die anderen Erklärungen eher zu. Menschen, die unter Paraphilie leiden, fügen Personen gegen deren Willen Schmerzen zu oder demütigen sie, um ihre Opfer leiden zu sehen, oft sind das Kinder.«
    Craig wagte kaum zu atmen.
    »Aber Mom war nicht pervers«, fügte Lucille rasch hinzu, nicht um ihre Mutter zu schützen, sondern damit sich Craig nicht noch mehr aufregte. Da er ihr fast die Hand brach, entzog Lucille sie ihm.
    Er hatte inzwischen Schatten unter den Augen, als hätte er eine Woche lang nicht geschlafen. »Das geht mir an die Nieren.«
    »Man darf die schizoide Persönlichkeitsstörung nicht vergessen. Sie konnte ihre Gefühle nicht zeigen, ihr Opfer schon.« Ihr Opfer, das war Lucille gewesen, Jessica Blunts dreijährige Tochter. »Es hat meine Mutter fertiggemacht, als mein Vater uns verließ, weil er eine Frau fand, die ihm ihre Liebe deutlicher zeigte als Mom, aber sie war unfähig zu weinen. Damals nahm sie das erste Mal die Klinge aus dem Rasierer, den er zurückgelassen hatte, zerrte mich auf ihren Schoß, schob mein Kleid hoch und schnitt mich an einer Stelle, die man nicht auf den ersten Blick sah. Und ich weinte für sie. Ich war entsetzt, verzweifelt und tobte, genauso wie sie es gerne getan hätte, weil ihr Mann sie alleingelassen hatte, aber sie war zu solchen Gefühlsausbrüchen nicht fähig.«
    Craig schwieg fassungslos. Sekundenlang herrschte eine bedrückende Stille im Schlafzimmer.
    »Nachdem das Sozialamt unsere Bezüge kürzte, folgte der zweite Schnitt, und ich jammerte für Mom. Ich verkörperte die Verzweiflung, die sie ergriff, weil wir kaum über die Runden kamen. Als das Jugendamt nach mir schaute, weil irgendeiner der Nachbarn Alarm geschlagen hatte – vielleicht weil ich so oft herzzerreißend schrie –, holte sie nach dem Besuch als Erstes die Klinge aus dem Bad. Und ich zeigte ihr die Angst, die sie empfand, weil sie befürchtete, man könnte mich ihr wegnehmen.« Lucille verlor den Kampf, ihre Augen wurden feucht, und sie schämte sich für ihre Schwäche, obwohl sie wusste, dass sie das nicht brauchte. »An meinem vierten Lebensjahr kannte ich die ganze Bandbreite negativer Gefühle. Selten schenkte Mom mir einen Lutscher oder Schokolade und brachte mich zum Strahlen, weil sie aufgrund ihrer Krankheit selbst selten Freude empfand.« Die ersten Tränen rannen über ihre Wangen. »Mom war wie eine Insel und ich ihr Steg zum Festland.«
    »Das ist grausam.« Craig flüsterte beinahe. »Es tut mir so leid, dass ich dich gedrängt habe, alles zu berichten. Ich hätte nicht darauf bestehen dürfen.«
    »Ab sofort werden wir meinen Barcode des Grauens nicht mehr erwähnen, ja?«, fragte sie schluchzend und rollte sich wie ein Fötus zusammen. Sie dachte, sie wäre über die Geschehnisse hinweg – ihre Kindheit lag lange zurück –, doch das stimmte nicht. Vermutlich würde sie die Tortur nie vergessen können. Die schlimmen Erlebnisse würden immer ein Teil von ihr sein, selbst nach dem Tod ihrer

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