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Jenseits aller Tabus

Jenseits aller Tabus

Titel: Jenseits aller Tabus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Henke
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und wohlbehütet in diesem oder einem anderen bewachten Anwesen groß geworden. Was konnte ihm schon widerfahren sein? Ein eingewachsener Zehennagel? Doch dann fiel ihr Blick auf die Fotos, die hinter ihm auf der Nachtkonsole standen. Nur der obere Rand der Bilderrahmen ragte über Craig hinaus. Mildred und Ted Bellamy schienen jung gestorben zu sein. Welches Drama mochte sich dahinter verstecken?
    »Aber das ist jetzt nicht der Moment, um meine Geschichte zu hören, sondern deine.« Zärtlich schlang er seine Finger in ihre. »Ein anderes Mal.«
    »Versprochen?« Da er zur Bestätigung ihre Hand drückte, fuhr Lucille fort, bevor sie den Mut dazu verlor. Ihr Herz pochte unangenehm stark in ihrem Brustkorb. »Wir wohnten damals in einem Hochhaus. Unsere Nachbarn waren fast nur Farbige, ansonsten lebten dort einige wenige Hispanos und nur eine weitere weiße Familie. Mir war das egal. Ich hätte mit allen Kinder gespielt, egal welcher Hautfarbe. Mit jeder Faser sehnte ich mich nach einem Spielkameraden, denn meine Mutter ging nirgendwo mit mir hin. Zu riskant. Sie selbst verließ die Wohnung nur, um den Scheck vom Sozialamt zu holen oder wenn sie einkaufen musste, immer sauber gekleidet und adrett frisiert.« Lucille musste kämpfen, damit ihre Stimme nicht zitterte. »Einmal hörte ich, wie eine farbige Nachbarin sie die Königin aus Eis nannte. Damals dachte ich, sie spielte auf Moms hellen Teint an, aber inzwischen weiß ich es besser. Sie meinte ihre kühle Fassade. Mom zeigte ihre Angst nicht, wenn sie durch das Treppenhaus ging, schaute die Nachbarn aber weder an, noch grüßte sie sie.«
    »Das kam nicht gut an«, vermutete Craig und ließ seine Fingerspitzen über ihren Handrücken kreisen.
    »Alle glaubten, meine Mom würde sich für etwas Besseres halten, doch in Wahrheit versteckte sie nur ihre Furcht hinter einer neutralen Maske. Moms Gesichtsausdruck sah selbst daheim immer gleich aus, egal ob sie sich glücklich oder unglücklich fühlte, als wäre sie aus Stein. Aber in ihr drin tobte das Chaos. Da sie ihre Emotionen nie zeigte, steckten sie in ihr fest, wirbelten in ihrem Kopf durcheinander und verwirrten sie.«
    Craig rutschte dicht an sie heran und schlang seinen Arm um ihre Hüften. Leise sagte er: »Irgendwann ist sie ausgetickt.«
    So kann man es auch nennen, dachte Lucille und lächelte müde. »Mom fand ein Ventil für ihre Gefühle.«
    »Klingt unheilvoll«, bemerkte er und zog die Decke über ihre Schultern.
    Lucille steckte einen Finger unter das Lederband und zog es vom Hals weg, weil es ihr auf einmal zu eng erschien, worauf Craig es ihr sofort abnahm. Während er es auf die Konsole hinter sich legte, atmete Lucille tief durch. Ihr Brustkorb krampfte sich zusammen, als sie hinzufügte: »Mich.«
    Als er sich wieder zu ihr umdrehte, war jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Eng drückte er sie an sich. Er streichelte ihren Nacken, und Lucille mutmaßte, dass er das mehr zu seiner als zu ihrer Beruhigung tat. Im Grunde wollte er nicht mit ihrer schmerzhaften Vergangenheit konfrontiert werden, weil es ihm wehtat, zu hören, dass jemand sie verletzt hatte, zumindest leitete Lucille das von seinem hilflosen Blick und seiner zunehmenden Unruhe ab. Aber um ihr helfen zu können oder zumindest zu verstehen, musste er ihrer Erzählung bis zum Ende lauschen. Sie empfand kein Mitleid, immerhin hatte er darauf gedrängt. Ein Teil von ihr jedoch freute sich über sein ernsthaftes Interesse an ihr.
    Selbst mit krauser Stirn sah Craig bezaubernd aus. »Hat sie …«, begann er, sprach den Satz jedoch nicht aus.
    »Auf andere wirkte Mom eigenbrötlerisch, aber normal. Ihre Zurückhaltung deutete man als Arroganz, aus ihren fehlenden sozialen Kontakten leitete man ab, dass sie eine Einzelgängerin war. Einige nahmen sie in Schutz und sagten, sie hätte lediglich ihren Kopf in den Wolken, sei eine Träumerin und würde in ihrer eigenen Welt leben. Andere wiederum glaubten, sie sei zur Zurückhaltung erzogen worden und könnte nun nicht mehr aus ihrer Haut.« Lucille spulte ihren Bericht beinahe nüchtern ab, aber sie spürte bereits, wie Tränen in ihre Augen steigen wollten. Mühsam kämpfte sie dagegen an. »Sie hatten recht, mit allem.«
    »Was meinst du damit? Ich verstehe das nicht.« Craigs Stimme klang einfühlsam, nach aufrichtiger Anteilnahme, das machte es für Lucille noch schwerer. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sachlich mit ihr gesprochen.
    »Meine Mom hatte Probleme, ihre Gefühle

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