Jenseits aller Tabus
fühlte sich verdammt gut für Lucille an.
»Jetzt, da wir ein Liebespaar sind …«, begann Craig und streifte mit dem Handrücken ihre linke Brustspitze, die daraufhin kribbelte.
Ein Liebespaar? Meinte er das ernst, oder spielte er lediglich auf ihre Scharade an? Lucille versuchte seine Gedanken an seiner Miene abzulesen, blieb aber erfolglos.
»Meinst du nicht auch«, fuhr er fort und strich seitlich über ihren Oberschenkel, »es wäre an der Zeit, mir zu erzählen, woher deine Narben stammen?«
24. KAPITEL
»Ich weiß nicht«, war alles, was Lucille über die Lippen brachte, und meinte in Wirklichkeit: Ich weiß nicht, ob ich das will.
»Es macht mich traurig, dass du mir noch immer nicht genug vertraust, um dich mir anzuvertrauen.« Sein Blick flackerte unsicher. »Ich kann dir helfen.«
Die Tortur lag lange zurück. Lucille wollte sie für immer vergessen, aber man ließ sie nicht. »Das brauchst du nicht.«
»Aber ich will es!«, sagte er energisch. »Du benötigst dringend Unterstützung, und ich habe keinen blassen Schimmer, weshalb du meine ablehnst. Kannst du mir wenigstens das erklären?«
Lucille fühlte sich auf einmal unwohl in ihrer Haut. Sie hasste die Narben auf der Rückseite ihrer Unterschenkel, weil sie immer wieder thematisiert wurden, wenn Lucille mit einem Mann intim war. Unglaublich, aber wahr, sie hatte noch nie ein Schwimmbad betreten, niemals Hotpants oder einen Minirock getragen. Hinzu kamen die geröteten Stellen um ihren Bauchnabel, die von der Tattoo-Entfernung stammten und Zeit brauchten, um abzuheilen.
Zögerlich sagte sie: »Weil die Narben der Vergangenheit angehören.«
»Dann ist dein Peiniger nicht mehr Teil deines Lebens?« Bevor sie antworten konnte, fasste er ihren Oberarm und spie die folgenden Worte förmlich aus: »Ich bringe ihn trotzdem hinter Gitter, ich schwöre es!«
In diesem Moment wusste Lucille, er würde nicht aufgeben zu bohren, bis sie ihm die Wahrheit berichtet hatte. »In Ordnung, ich werde dir erzählen, wie es dazu kam, aber du wirst deine Genugtuung ebenso wenig bekommen wie ich. Manchmal ist das Leben einfach grausam, und man muss sein Schicksal annehmen, anstatt damit zu hadern, um nicht zugrunde zu gehen.«
Das erste Mal, seitdem sie Craig Bellamy kannte, war er sprachlos. Ihre Worte bestürzten ihn so sehr, dass er zwar seinen Mund öffnete, aber nur um nach Atem zu ringen.
Lucille zog die Bettdecke bis zur Taille hoch und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder auf, an die sie sich eigentlich gar nicht erinnern wollte.
Das abbruchreife Haus an der Straßenecke, in dem trotzdem noch drei Familien hausten. Müll, den die Nachbarn achtlos auf den Spielplatz kippten. Kinder spielten dort ohnehin nicht, wegen der Heroinspritzen und der Jugendbanden. Der leblose Hund im Abwasserkanal. Tote waren keine Seltenheit in Mattapan. Trostlosigkeit, Resignation und Furcht. Kein Grün, nur Beton. Regen, der die Straßen von Boston grau färbte. Regen, der gegen die Fensterscheibe klopfte. Jessica Blunt, die in ihrem Schaukelstuhl saß, beobachtete, wie die Tropfen am Glas hinabrannen, und diesen seltsamen Ausdruck bekam, der Lucille dazu veranlasste, stocksteif auf der Couch zu sitzen, als wäre sie eins der zahlreichen Püppchen ihrer Mutter. Viel größer war sie damals auch nicht gewesen.
»Touristen, die nach Beantown kommen«, so nannte man ihre Heimatstadt, »schauen sich das Museum der schönen Künste an, gehen zu einem Spiel der Boston Celtics oder besuchen den Harborwalk, auf den der Bürgermeister so verdammt stolz ist, weil er einen Weg gefunden hat, aus dem alten Hafengelände noch Kapital zu schlagen.« Während Lucille sprach, vermied sie es, Craig anzusehen. Stattdessen betrachtete sie seinen Schaft, der so friedlich dalag; die Penisspitze, die aufgrund der Teilbeschneidung selbst im schlaffen Zustand herauslugte. »Nach Mattapan verirrt sich niemand. Das Viertel ist zu gefährlich. Dort wuchs ich auf.«
Craig legte eine Hand auf ihren Arm. »Kein schöner Ort.«
»Für dich klingt das sicher wie ein Klischee.« Vielleicht dachte er sogar insgeheim, sie würde übertreiben. »Wie einer dieser Filme aus der New Yorker Bronx, aber die Realität in Mattapan sieht wirklich so aus.«
»Auch ich habe schon Dreck gefressen, Kirby.«
Ach ja? Jetzt sah sie ihn doch an. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Er, der Sprössling einer reichen Familie, war mit dem goldenen Löffel im Mund geboren
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