Jenseits aller Vernunft
Sie war geflohen, doch er hatte sie schnell eingeholt. Mit dem Mut der Verzweiflung wehrte sie sich. Dabei war er gefallen, und seine Schläfe traf auf eine Felsspitze, so dass sie ihn für tot hielt. Was würde Ross sagen, wenn sie ihm erzählte, dass dieser feige Schurke sie immer noch verfolgte?
Das gespannte Schweigen hielt an. Schließlich rückte er zur Seite und seufzte tief. »Ich war selbst ein Gesetzloser, Lydia.«
Das war das letzte, was sie jetzt erwartet hätte. Sie hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. »Ein Gesetzloser?« wiederholte sie. Nicht, dass sie das nicht schon gewu ss t hätte. Clancey hatte ihr ja den Steckbrief gezeigt. Nur dass er ihr das erzählte, konnte sie nicht glauben. Ob das ein Zeichen von Vertrauen war?
»Ich bin mit den James-Brüdern in einer Bande gewesen. Habe Züge angehalten. Auf Leute geschossen. Auch ein paar umgebracht.« Seine Worte waren knapp, aber sie spürte, wie er sich öffnete. Er hatte dieses Geheimnis seit Jahren gehütet und wollte es jetzt loswerden.
»Meine Mutter war eine Hure«, fuhr er fort und sah sie offen an, um ihre Reaktion zu prüfen. Er hatte sich vorgestellt, was wohl passiert wäre, wenn er Victoria davon erzählt hätte, hatte das Grauen auf ihrer Miene vor sich gesehen. Auf Lydias Gesicht war davon nichts zu erkennen. Sie schaute ihn weiter erwartungsvoll an. Er wollte, dass sie absolut alles deutlich verstand. »Weißt du, was ich meine? Sie war eine fette, faule, schmutzige Hure.« Aber auf ihren Zügen malte sich höchstens noch mehr Mitgefühl.
»Hast du sie geliebt?«
Diese Frage brachte ihn peinlich den Tränen nahe. Er antwortete nach innen gekehrt: »Das wollte ich gern. O Gott, ja. War vielleicht auch so. Als ich noch klein war. Ich wollte, dass sie mich liebte, aber...« Er wischte sich über die Stirn und richtete sich auf. »Ich war ein lästiger Unfall, und das hat sie mir nie verziehen.«
»Und dein Vater?«
»Den hab’ ich nie gekannt.« Er lachte hart. »Sie auch nicht. Ich weiß nicht mal meinen genauen Geburtstag. Im Hinterzimmer habe ich bei dem Barkeeper gehaust, der mir jedesmal, wenn ich auch nur den Mund aufmachte, Backpfeifen austeilte. Daisy, so hieß sie, denn Mama durfte ich sie nicht nennen, arbeitete die ganze Nacht und schlief tagsüber. Ich war meistens allein, machte Unsinn, stahl, warf Fensterscheiben ein, was mir so einfiel. Und weil das alles mit der Zeit langweilig wurde, habe ich einen Job im Mietstall angenommen. Daher weiß ich alles über Pferde. Als ich ungefähr vierzehn war, ist Daisy gestorben.«
»Wie?«
»Sie wachte morgens auf und hatte Bauchschmerzen. Und das wurde nicht besser. Der alte Doktor hat gesagt, sie hätte ein Bauchfieber und er könnte nichts mehr machen. Am nächsten Tag starb sie.
Die Puffmutter warf mich hinaus. Außerdem hing mir die Arbeit sowieso schon zum Halse heraus. Und weil ich annahm, dass mich die ganze Stadt, was immer ich anfinge, doch nur als den Sohn von Daisy, der Hure, sehen würde, sah ich keinen Grund, irgendwas zu ändern. Inzwischen hatte ich im Bordell Spielen, Fluchen, Pokern gelernt. Und wie ich mich selbst durchbringen konnte.
Ich stahl mir ein Pferd und verschwand aus der Stadt. Überall bin ich herumgezogen, und meistens habe ich ziemlichen Quatsch gemacht. Der erste Mann, den ich tötete, hatte mir vorgeworfen, ich betröge ihn beim Pokern. Ich nannte ihn einen verdammten Lügner, und er zog die Waffe. Der Schnellere war ich.«
»Und, hast du ihn betrogen?«
Er lächelte traurig. »Natürlich. Ich glaube, es ging um fünf Dollar. Ich tötete einen Menschen wegen fünf lächerlichen Dollar.« Einen Augenblick hielt er mit gerunzelten Brauen inne. »Ich war etwa zwanzig, als der Krieg begann, und habe mich einer Rebellentruppe angeschlossen. Es war wie ein Fest. Stehlen und töten, die Armee erlaubte alles. Und ich war ein guter Soldat. Männer, denen es egal ist, ob sie sterben, scheuen oft kein Wagnis und überleben trotzdem. Die ehrenvollen Männer sterben«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Aber der Krieg ging zu Ende, und ich hatte als Schütze nichts mehr zu tun als weiterzumachen, bis einer kommen würde, der besser war als ich. Eines Nachts in einem Saloon habe ich mich mit einem Mann eingelassen, der schließlich nachgab. Er stellte mich Jesse und Frank vor. Damals fing ich an, bei ihnen mitzumachen.«
Sie kannte diese Männer nicht, vermutete aber, es handle sich um bekannte Banditen. »Ungefähr zwei Jahre war ich bei ihnen. Dann
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