Jenseits der Alpen - Kriminalroman
keine Zeit habe. Also was soll die Frage?«
Sie hatte die Tür bereits aufgemacht, warf noch einen kurzen Blick zu ihm zurück, ohne dabei zu lächeln, und schlich aus dem Zimmer.
Mit einem Schnaufer der Erleichterung widmete sich Ottakring wieder seinen Schuhen und nahm den Hörer in die Hand.
»Herr Ottakring«, kam es energisch von der Tür her.
Entnervt sah der Kriminalrat auf. Die Agnes schon wieder.
»Herr Ottakring, hier möchte Sie aber jemand dringend sprechen.«
Er wollte schon auf den Tisch hauen, da ging die Tür noch weiter auf. Und herein schwebte – er traute seinen Augen nicht – ein Engel!
Ein wahrhaftiger Engel, eingehüllt in goldenen Schein, der auf Wolken ins Zimmer glitt. »Lola!«, rief er, sprang auf und flog auf den Engel zu.
Hinter dem Engel schloss sich dezent die Himmelspforte. Durch das weit geöffnete Fenster drang beifälliges Vogelgezwitscher.
Ottakrings Engel war Mitte dreißig, hatte volle Lippen, blaue Augen und eine Stupsnase. Ihren Pagenschnitt ließ sie sich mal dunkler, mal nicht so dunkel färben, um nicht preiszugeben, dass sie frühzeitig ergraut war.
Erst als der Engel in seinen Armen lag und er ihr Gesicht an seinem Hals spürte, merkte er, dass Tränen flossen.
»Lola, was ist? Warum weinst du?«
Unter dem Strom von Tränen zuckten ihre Gesichtsmuskeln. Es hatte den Anschein, als versuchte sie, verkrampft zu lachen. Erst als sie sich die Augen trocken gewischt hatte, merkte Ottakring, dass es Freudentränen waren.
»Man – man – man hat mir eine Stelle angeboten«, stammelte sie. »Beim Fernsehen. Bayerischer Rundfunk, Abendschau. Wie findest du das?«
Da wusste Ottakring, wie viel Lolas Tränen wert waren. Er strich ihr sanft übers seidenweiche Haar. »Darf ich dich nachher auf ein Glas Irgendwas einladen? Ich muss nur mehr ein paar Dinge erledigen.«
Den Obduktionsbericht verstaute er in der untersten Schreibtischschublade. Wenn er ehrlich war, hätte er sich nicht in seinen schlimmsten Träumen vorstellen können, dass der »unwahrscheinliche Fall«, wie er es Polizeioberleutnant Spurny gegenüber genannt hatte, tatsächlich in sehr absehbarer Zeit eintreten sollte.
Olbia, Sardinien, 26. bis 30. Dezember 1999
Es war mit über zwanzig Grad ein ungewöhnlich warmer Dezembertag. Die mit Platanen, Palmen und Zypressen besäumten Terrassen der Innenstadtbars und -restaurants waren voll besetzt mit alten Männern, die schweigend ihren Kaffee schlürften, mit Frauen, die ihre Kinderwagen parkten, und Touristen, die auf die Abfahrt der Fähre warteten. Vom Hafen führte der Corso Umberto zur Plaza Regina Margherita. Von dort aus hörte man die Klänge eines Orchesters, das unter den Palmen der Promenade gegenüber der Mole, an der die Fischkutter lagen, die nachweihnachtliche Feststimmung musikalisch untermalte.
Über der Silhouette der Stadt schickte sich die tief stehende Sonne an, einen blutroten Abendhimmel zu inszenieren. Im diesigen Licht schimmerte der Spiegel des Mittelmeers in der Bucht von Olbia mit ihren Inseln wie flüssiges Gold. Darin schwammen schillernde Ölflecke, welche die Fähren nach Genua, Livorno und Civitavecchia hinterließen.
Weihnachten war endgültig vorbei. Auf dem Platz vor der Commune di Olbia hatte man Eiskarren und Stände mit Souvenirs und Süßigkeiten aufgestellt, auf ausgebreiteten Decken am Boden wurden Kunsthandwerk und gefälschte Uhren dargeboten. Durch dieses Gewirr schoben sich junge Leute mit Rucksäcken, die eine der Fähren erreichen wollten, und Katzen strichen auf der Suche nach Stehlbarem an Hauswänden entlang. Ein Sänger mit langen Koteletten und pomadig glänzendem Haar spielte Gitarre und trug dazu schwermütige Lieder vor. Er trug ein weißes Rüschenhemd und hautenge schwarze Hosen, aus deren Gesäßtasche ein glänzender Metallkamm ragte.
Zu seinen Melodien tanzte eng umschlungen Nunzio Ruspanti mit seiner Frau Selma inmitten einer schwitzenden glücklichen Menge, eingehüllt vom süßlichen Duft gebrannter Mandeln. Der Sänger hatte Mühe, das Knattern vorbeirasender Mopeds zu übertönen, das Geplärre kleiner Kinder und das Gejohle der Jugendlichen, die den übrigen Lärm niederbrüllen wollten.
Hätte Selma Ruspanti nur im Geringsten geahnt, welches Unheil ihr drohte, hätte sie sich augenblicklich den Fängen ihres Mannes entzogen. So aber schwitzte sie und schmiegte sich glücklich an seinen Körper.
Die Ruspantis bewohnten seit Kurzem eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem in sonnigem Gelb
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