Jenseits der Alpen - Kriminalroman
aus einer Wand ohne Bullauge, einer zweiten Wand mit Tür, einer Koje und einem Lichtschalter. Den drückte sie und stand auf.
An Bord wehte eine heftige Brise. Vor und hinter ihrer Fähre warteten andere Fähren, und auf der Nordseite des Landungsstegs ankerten weitere. Im Osten schob sich die Sonne über den Horizont. Schlagartig wurde es wärmer. In der erstbesten Bar am Kai bestellte Selma einen Cappuccino und verzehrte ein Croissant, das sie teilte und mit Butter und Marmelade bestrich.
Obwohl sie vor Aufregung und Lärm und wegen der Enge kaum geschlafen hatte, fühlte sie sich nicht müde. Schon in der schmalen Koje hatte sie sich mit der Frage herumgequält, wie es nun weitergehen sollte. Das Problem war noch nicht gelöst.
Sie nahm ihren Kaffee mit nach draußen. Es gab nahezu kein Geräusch, als die Tür zurückschwang, Selma aufrecht in die Kühle des Morgens hinaustrat und auf einem der vier Stühle auf der kleinen Terrasse Platz nahm. Ein Zitronenbäumchen stand da in einem Kübel, eine Wäscheleine war aufgespannt, und eine grau-weiß gefleckte Katze sonnte sich an der Hauswand und putzte ihr Fell.
Sie hatte ihren Mann verlassen. Den Mann, den sie vor nicht langer Zeit noch geliebt hatte und mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. Was war passiert? Ja, er hatte sie geschlagen und sie auch sonst in letzter Zeit schlecht behandelt. Er war oft betrunken. Doch da musste mehr sein. Egal jetzt, ihr Entschluss war gefasst. Sie würde sich mit ihrer Schwester über ihre Situation unterhalten, mit Marta konnte man das sehr gut.
Wenn Selma am Straßenrand stand, um ein Auto anzuhalten, wirkte sie wie ein Gemisch aus Naivität und Verstellung, Anmut und Gewöhnlichkeit. Doch in Rekordzeit hatte sie es diesmal geschafft, ohne etwas anderes zu tun, als einfach nur dazustehen.
Auf der letzten Gehstrecke vom riesigen Hafen zur erstbesten Haltegelegenheit an der Schnellstraße nach Norden war sie von einem heftigen Gewitter begleitet worden. Nur ein Sprung unter die Markise vor einer Modeboutique hatte sie davor bewahrt, bis auf die Haut durchnässt zu werden. Doch kurze Zeit danach schien schon wieder die Wintersonne, und in den durchnässten, dampfenden Baumkronen am Boulevard kreischten die Vögel. Das Haus, in dem sich die Boutique befand, war verschnörkelt und altersschwach, doch es besaß eine Tiefgarage. Deren Tor fuhr hoch, und ein schwarzer vornehmer Wagen kam herausgeschlüpft, gerade als die Sonne begann, gierig die Nässe vom Gehsteig zu lecken. Kleine Grashüpfer sprangen aus dem dürren Unkraut unter den Bäumen.
Neben Selma stand ihre Reisetasche auf dem Boden. Den Rucksack trug sie am Rücken.
»Möchten Sie in die Boutique, Signorina?«
Selma war nicht darauf gefasst gewesen, dass sich das Autofenster wie von selbst nach unten bewegte und sie angesprochen wurde. Doch sie war nicht um Worte verlegen.
»Nicht in die Boutique, aber nach … nach Bille … nach Billef…« Sie setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf. »In Germania.«
»Bielefeld? Germania? Ich fahre nach Venedig. Da kann ich Sie ein Stück mitnehmen, wenn Sie wollen.«
Der Fahrer, ein Signore der gehobenen Klasse im dunkelblauen Anzug mit weißem Einstecktuch, sprach wenig. Sein angeborenes Tempo lag trotz der vorgeschriebenen hundertdreißig bei knapp zweihundert. Flaches, langweiliges Land, sie passierten Piacenza, Brescia, das Südende des Gardasees. Nach zwei Stunden waren sie da.
»Hier, an diesem Rasthof, da lass ich Sie raus. Da vorne liegt Verona. Ich fahre dann weiter nach Venedig. Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahrtausend.«
Ein Gemüsehändler, der im Rasthof tankte und ein Ziel hatte, das zwanzig Kilometer nördlich lag, nahm Selma mit. Nördlich, sagte sie sich, war näher an Billefalde. Näher an Marta. Das Ziel war ein Städtchen namens Bussolengo. In Bussolengo gab es einen Großmarkt. Dorthin musste der Händler Gemüse liefern.
»Die haben eine traumhafte Taverne im Mercato «, verabschiedete er sich mit geheimnisvoller Miene. »Da verkehren die Fernfahrer. Da kannst du vielleicht Anschluss finden.«
Auf dem Parkplatz vor der Taverne standen riesige Laster und Aufliegerfahrzeuge vieler Nationalitäten. Selma schleppte ihr Gepäck in die Taverne. »Gut und preiswert essen«, sagte das Schild über dem Eingang.
Das Lokal war halb voll. Neunzig Prozent waren Männer. Stimmengewirr, schlechte Luft, es roch nach Knoblauch und heißem Öl. Den Rucksack hatte Selma am Rücken, die Tasche in der
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