Jenseits der Alpen - Kriminalroman
linken Hand, als sie eintrat. Ihr suchender Blick blieb an einem Mann hängen, der an der Bar saß. Er hatte einen Espresso vor sich, einen doppelten, der Tasse nach zu schließen, und schaute sie an. Sie wendete den Blick bewusst wieder ab und trottete zu einem freien runden Zweiertisch am Fenster. Ein Platz, von dem aus sie ungehinderte Sicht auf die Bar hatte. Sie stellte das Gepäck in Griffweite auf den Boden, setzte sich und bestellte, als die Kellnerin kam, einen Espresso und ein Wasser. Dann sah sie sich um.
Immer wieder schwenkten ihre Augen zu dem Blonden an der Bar. Bestimmt ein Fernfahrer. Ob er nach Norden fährt?
Die Kellnerin brachte einen zweiten Espresso.
»Den habe ich nicht bestellt«, protestierte Selma leise.
»Der ist von dem Signore drüben an der Bar. Der da!« Ungeniert deutete sie mit dem Finger auf den Blonden.
Der Blonde lächelte und winkte ihr zu. Sie lächelte ebenfalls und winkte schüchtern zurück. Sekunden später erhob er sich und kam im Schaukelgang auf sie zu. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken. Nervös strich sie über die bunte Plastiktischdecke, räusperte sich und wendete sich ab.
* * *
Italienerin. Anhalterin, dachte Thorsten Gollek, als die zierliche Schwarzhaarige voll bepackt zur Tür hereinkam. Sie ließ dabei die Flügel der Schwingtür langsam über die offenen Handflächen gleiten und dann sehr vorsichtig los. Er fing sie mit den Augen ein, sie erwiderte seinen Blick. Einen Augenblick lang war er sicher, dass sie auf ihn zukäme. Doch dann klickte etwas in ihr, sie kehrte ihm den Rücken und suchte sich einen freien Tisch.
Innerhalb dieser zehn Sekunden, die sie benötigte, um die Taverne zu betreten, wusste er, dass sie miteinander schlafen würden.
»He, bring der Dame einen Espresso von mir«, sagte er nach einer Weile zur Kellnerin. Sie war Norddeutsche wie er. Er hörte es heraus, wenn sie mit den Gästen Italienisch sprach.
Im Vorübergehen reckte sie einen Daumen in die Höhe, ohne Gollek dabei anzusehen.
Er wartete, bis der Espresso seine Abnehmerin gefunden hatte. Die Frau trank ein Schlückchen, dann sah sie aus dem Fenster, ohne sich bei ihm mit einem Blick, einem Wink oder einer anderen Geste zu bedanken.
Er schlenderte betont lässig zu ihrem Tisch. Sie sah immerfort aus dem Fenster. Doch er wusste, dass sie auf ihn wartete. Das kühle und glatte Holz der Stuhllehne, über die zunächst seine Hand wischte und auf die er sich dann stützte, ermunterte ihn.
Das war der Augenblick, als alles begann. Als sie sich ihm zuwendete, war ihm innerhalb von Sekunden klar, was abgehen würde.
»Du Auto?«, fragte sie ihn.
Ja, sie war Italienerin. Aber wie konnte sie wissen, dass er Deutscher war?
»Ja, ich Auto«, sagte er belustigt. »Ja, klar. Soooooo großes Auto.« Mit beiden Armen deutete er die Länge seines Lkws an. »Wohin? Dove? «
Sie breitete beide Hände mit den Flächen nach oben aus. Ihre Augen waren sehr dunkel und glänzten. Er bildete sich ein, dass ihre schmale Nase vibrierte.
» Fa lo stesso . Mir egal«, sagte sie. »Norte. Germania.«
Er nickte. »Okay. Trink aus. Wir fahren.«
Das schwache Gebläse des Ventilators über dem Tisch wirbelte eine schwarze Locke in ihre Stirn. Sie machte den Mund schief und versuchte sie wegzublasen, ohne die Hände zu benutzen. Es misslang. Da wischte er die Locke weg und verstaute sie in ihrem Haar.
Sie lächelte ihn mit leicht geöffneten Lippen an. »Selma«, sagte sie und legte eine Zeigefingerspitze auf ihre Brust.
Die Frau war ein ganzes Stück jünger als er. Wegen ihres Aussehens würde man sich auf der Straße aber nicht nach ihr umdrehen, dachte Gollek. Auf eine gewisse Weise strahlte sie einen ihr ganz eigenen schwachen Glanz aus. Sie hatte fast kindliche Züge. Ein träumerischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, halb Schmerz, halb Lust. Schwierig zu sagen.
Er lachte, sodass seine Zähne sie anblitzten. »Thorsten«, sagte er, nahm ihren Zeigefinger und legte ihn auf seine Brust.
Als sie aufstanden, waren sich beide unausgesprochen einig. Selma hatte zu diesem Zeitpunkt keine Vorahnung, dass etwas anderes als Leidenschaft über sie herfallen könnte.
Bei Bussolengo, Silvester 1999, später Nachmittag
Gegen halb vier kamen sie an einen Parkplatz, der sehr reizvoll an einem Bach und abgelegen in einem Pinienwald lag. Unvermutete Störungen waren nicht zu befürchten. Ohne zu blinken, bog Gollek hinein und rollte einen kleinen Abhang hinunter. Er parkte den Lkw inmitten der
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