Jenseits der Finsternis
bilden wir uns nur ein. Zeit ist etwas, das wir uns selbst auferlegt haben.«
Conrad sah ihn grübelnd an.
»Und nur wir selbst können sie auch wieder abschütteln«, fügte Phil hinzu. »Du mußt es nur wollen. Für uns existiert nur unser Geist. Alles, was wir sonst für wirklich halten, ist Illusion oder nur für uns wirklich. Deshalb sitze ich so gerne hier und schaue aufs Meer hinaus. Sieh es dir doch an.«
Conrad tat es die ganze Zeit. Ein rauher Wind strich über die weite Wasserfläche, folgte dumpf grollenden Wellen ans Ufer und erfüllte das Meer mit pulsierendem Leben. Möwen kreisten nahe des Strandes, stießen in Schwärmen aufs Wasser und zogen dann in ausgedehnten Kreisen über die Klippen davon. Die Landschaft schien heute ungemein lebendig, doch ihres ursprünglichen Zaubers war sie dadurch nicht beraubt.
»Es wird ewig da sein, das Meer. Es ist die einzige feste Größe in seiner Welt. Alles in ihm ist vage und unbeständig, labile Schollen aus metamorphem Land. Ja, es ist uns wirklich sehr ähnlich.«
Conrad hörte ihm zu, ohne die Worte recht verarbeiten zu können. Er begriff die eigenartige Weltanschauung dieses Mannes nicht. Während ihrer endlosen Gespräche hatte er nicht mehr über Phil erfahren als die Andeutung, daß er im zweiten Weltkrieg einige Jahre in deutscher Gefangenschaft verbracht hatte. Er betrachtete diese Zeit, die ihm nach seinen Worten wesentliche Erkenntnisse vermittelt hatte, jedoch nicht als vergangen. Sie sei nur eine andere Gegenwart, hatte er mehrere Male betont.
Sie blieben an diesem Abend bis zur Dämmerung sitzen und zogen sich erst ins Haus zurück, als vom Meer eine Gewitterfront über die Landschaft aufzog. Die dunklen Wolkenberge näherten sich wie der Farbschwall eines gewaltigen Tintenfisches dem Haus, dämmten das Abendlicht und blieben letztlich fast bewegungslos über der Szenerie stehen. Nach einer Weile teilte sich die Wolkenfront und bildete zwei Ausläufer, die sich schließlich drohend gegenüberstanden. Bei Anbruch der Regenfälle zogen sie aufeinander zu und rieben in einem kurzen Kampf ihre Kräfte auf. Schon eine Stunde später verzogen sich die letzten Wolken und ließen dem Ausklang der Dämmerung den Abend.
Conrad indes schenkte Phils Behausung größere Aufmerksamkeit, denn er entdeckte darin ständig Neues. Er erinnerte sich daran, wie Phil ihn einige Tage, nachdem sie sich kennengelernt hatten, das erstemal einließ. Der kleine Wohnraum beherbergte neben einer einfachen Schlafstätte ein Sammelsurium an marinen Souvenirs: Muschel- und Schneckenschalen, Korallen, Krabben, Krebse, Fische, getrockneten Tang und Lebewesen, wie sie Conrad noch nie gesehen hatte. Fast schien es so, als seien unter Phils Dach Erinnerungen an alle Zeiten aufbewahrt. Conrad erkannte erst sehr viel später die Tragweite dieses Gedankens.
In der Nacht hatte er unruhige Träume. Er sah sich im Meer treiben und an immer neue Ufer stranden. Schon als Phil noch schlief, wachte er aus einer dieser unheilvollen Visionen auf und beschloß, seine Gedanken bei einem Spaziergang in der frischen Morgenluft zu ordnen.
Mit den ersten Schritten ins Freie spürte er, daß etwas anders war. Die Ausstrahlung der Landschaft hatte über Nacht eine grundlegende Änderung erfahren. Die schmächtigen Grasflächen waren gewichen und hatten dem blanken Fels Platz gemacht, der bis tief ins Küstental hinab jeglicher Vegetation entbehrte. Soweit der Blick reichte, glänzte das graue Gestein unter frischem Tau und es schien die Landschaft so tot und verlassen zu sein, wie Conrad sie noch nie gesehen hatte. Er fühlte sich, als hätte er in dieser einen Nacht Jahrtausende überbrückt, den Abschied des Lebens versäumt.
Nachdem er zögernd ein Stück vorangeschritten war, wandte er sich ratlos um und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das Haus war ein anderes. Es war nicht mehr aus rohem Backstein gemauert, sondern aus einem megalithischen Felsen gehauen, eine Höhle im Stein mit fensterlosen Öffnungen und einem Verhang aus fossilem Holz anstelle einer Tür.
Er stand eine Weile da, ohne sich zu regen, und war keines Gedankens fähig. Die Kraft der Veränderung, die Greifbarkeit und stählerne Realität dieses Bildes, das nichts anderes als eine Illusion sein durfte, war zu überwältigend. Erst als Phil aus dem Haus kam, konnte Conrad sich fassen, doch er brachte keinen Ton über die Lippen. In Phils zerfurchtem Gesicht regte sich indes nicht mehr als leichte Belustigung.
»Es
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