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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
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gibt keinen Grund, sich zu ängstigen«, sagte er beinahe beiläufig und blickte um sich. »Ich habe nur einige Grenzen aufgehoben. Grenzen der Zeit. Deine.«
    Conrad starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er ahnte, daß Phil ihn in seine Welt hinüberzuziehen drohte, ihm seine Weltsicht, seine abwegige Philosophie aufdrängen wollte, doch er konnte sich nicht erklären, auf welche Weise dies geschah. Phil überrollte ihn irgendwie und entwand ihm ganz unverhofft seinen Einfluß auf das Geschehen; er übte eine Macht aus, die Conrad weder verstehen noch ihr etwas entgegensetzen konnte. Nur ein Gedanke blieb, an dem er sich festhielt: dies mußte ein Traum sein, ein Alpdruck von ungeheurer Kraft.
    Von dieser Hoffnung angetrieben, warf er sich ungestüm um und rannte davon, den Felshang hinab auf den Weg ins Dorf, weit hinunter ins Küstental. Doch nach einer Stunde mußte er sich eingestehen, daß alle Flucht sinnlos war. Dort, wo das Dorf hätte sein müssen, entdeckte er nur einige brüchige Ruinen, und wo er nach den Straßen suchte, die von der Küste weg ins Land führten, war nichts als blankgewaschener Fels, eine seit Äonen verlassene Einöde, die so übermächtig leblos war, als erstrecke sie sich über die ganze Erde. Doch so grauenhaft und fern von allem üblichen Vorstellungsvermögen dies war, so war es ihm doch nicht völlig fremd. Die archetypischen Bilder der Trostlosigkeit, von denen Conrad umgeben war, erinnerten ihn an etwas Unbestimmbares. Wenn er sich näher auf dieses Gefühl konzentrierte – soweit es ihm in seiner Panik und Verwirrung möglich war – empfand er es als Relikt eines Traumes, den er vor langer Zeit einmal geträumt hatte, vielleicht schon vor seiner Geburt. Es war eine Art menschlicher Uralptraum, eine Furcht vor Einsamkeit, Tod und endloser Ruhe, die sich nun in der Metaphysik dieser Landschaft manifestierte. Dieses Gefühl ließ sich mit keiner verstandesmäßigen Regung kontrollieren, es war schon immer in ihm gewesen, als Teil seines Ichs, als ein Element seiner menschlichen Existenz. Doch es war noch mehr, wie er später erkannte.
    Er erinnerte sich an Stunden, in denen er sich die Zukunft ausgemalt hatte, als er über bevorstehende Naturkatastrophen, ökologische und biologische Zusammenbrüche, die alles mit sich reißen würden, nachgedacht hatte. Von dem, was danach kommen würde, hatte er keine bildliche Vorstellung gehabt, nur ein Gefühl, und dieses Gefühl glich jenem, das nun als Ausdruck seiner Urangst in ihm hochgestiegen war.
    Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Archetypen, dachte er. Alles ist in mir, alle Zukünfte, alle Vergangenheiten, alles, was ich je erlebte und je erleben werde, und alles, was ich je hätte erleben können. Alles verschwimmt in mir, und ich forme daraus meine Welt, meine Zeit und begrabe den Rest unter Trümmern aus Angst und Phantasie. Was mich hier umgibt, ist meine Zukunft und mein Ursprung in einem, Archetyp einer Welt, die in mir ist, die ich aber hasse, eine Welt, in der alle meine Ängste wirklich werden. Hier ist die Ordnung, die ich mir schon im Mutterleib aufbaute, zerstört, irgendeine Kraft hat sie zerschlagen und mich tief in mich selbst blicken und stürzen lassen.
    Conrad wußte nichts anderes zu tun, als nach seiner sinnlosen Flucht zu dem Haus zurückzukehren. Es gab keinen Zweifel, Phil hatte all dies bewirkt, und er war der einzige, der ihn wieder aufrichten konnte. So schwer der Gedanke fiel, so mußte sich Conrad doch eingestehen, daß er unterworfen war, dem Alten und sich selbst.
    Als er an die Klippe zurückkam, hockte Phil wie an jedem Tag am Rand der Klippe, das graue Haar von einer sanften Brise gebauscht und blickte mit zufriedenem Lächeln über das Meer wie über einen Spiegel. Der verrottete Mantel hing in Fetzen über seinen Schultern und zitterte im Wind. Phils Kleidung sah so alt aus wie die Gewänder einer jahrtausendealten Mumie, er selbst strahlte dagegen beinahe eine Aura von Unvergänglichkeit aus. Unten vor den Klippen spülten kleine Wellen Steinchen, Fossilien und algenüberwucherte Kiesel an den Strand.
    Phil verharrte bewegungslos, als Conrad sich neben ihn auf den Fels sinken ließ. Ohne ein einziges Wort zu wechseln, blieben sie dort bis zum Abend beieinander sitzen. Bei Einbruch der Dämmerung zogen sie sich vor dem allabendlichen Gewitter ins Haus zurück und beobachteten durch die Fensterhöhlen das unheimliche Schauspiel der sich langsam teilenden und während der heftigen

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