Jenseits der Finsternis
Da unten war es warm, geschützt, und man hatte ein Dach über dem Kopf. Aber zu viele waren nach unten geflohen, und bald begann ein erbitterter Existenzkampf, der sich zu infernalischen Auswüchsen steigerte. Ein bizarres, unterirdisches Reich entstand. Man munkelte von grotesken Monarchien, von Sklaverei und Kannibalismus. Genaues wußte niemand an der Oberfläche. Nur manchmal hörte man Schreie aus der Tiefe und sah Rauchwolken aus den Schächten steigen. Jeder Eingang zur U-Bahn wurde gemieden wie das Tor zur Hölle. Und jetzt kamen sie nach oben.
Blue schlief schlecht in den folgenden Nächten. Er hatte Angstträume, aus denen er völlig desorientiert hochfuhr, naßgeschwitzt und frierend.
Tagsüber mußte er sich meistens verstecken, denn eine Bande von Halbwüchsigen war plötzlich aufgetaucht, die die Straßen unsicher machte. Sie nannte sich Kampfgruppe City und trug Bundeswehruniformen mit Stahlhelmen und Knobelbechern.
Das erstemal sah Blue sie durch ein zerbrochenes Kellerfenster, als sie mit einer Riemenschneider-Madonna auf einem Handwagen die Straße hinunterzogen. Fast zum Greifen nahe rumpelte der Wagen vorbei. Die starren Augen der Holzfigur schienen Blue anzuschauen. Für ein paar Stunden würde das Kunstwerk gutes Brennholz abgeben.
Das Seltsamste an dieser Kampfgruppe war ihre Schweigsamkeit und ihre Disziplin. Sie hatte etwas Roboterhaftes, das inmitten des Chaos und des Verfalls wie ein gespenstisches Echo aus einer anderen Zeit wirkte. Stets gingen die Uniformierten mit kühler Professionalität zu Werke, ob sie nun Häuser durchsuchten, Stahlkammern aufsprengten oder töteten.
Eines Tages fand Blue die Bonbon-Oma. Früher hatte sie einen Kiosk in der Nähe der Schule besessen. Ab und zu hatte sie ihnen Bonbons oder einen Kaugummi zugesteckt. Sie sah immer noch so aus, wie er sie in Erinnerung hatte: runzliges Gesicht, große, abgearbeitete Hände, mit der obligaten geblümten Kittelschürze bekleidet. Seltsam, wie unverändert sie durch diese wirren Jahre gegangen war. Nun war sie tot. Sie sah eigenartig erleichtert aus. Wahrscheinlich war sie froh, daß dieser Alptraum ein Ende hatte. Sie hatte das alles sowieso nicht mehr begriffen.
Blue wunderte sich, daß er weinte. Er hatte schon lange nicht mehr geweint. »So kann das doch nicht weitergehen«, sagte er. Immer und immer wiederholte er diesen Satz.
»Morgen hauen wir ab«, sagte er abends zu Kristina. »Es ist sinnlos hierzubleiben. Wir müssen ein Ende machen.«
Kristina sah ihn lange an. »Ja«, sagte sie schließlich, »wir müssen ein Ende machen.«
Am nächsten Morgen war die Stadt wie verwandelt. In der Nacht war der Winter wieder gekommen. Frischgefallener Schnee hatte allen Schmutz zugedeckt. Eiskristalle glitzerten in der Sonne. Die Wolken waren verschwunden, und der Himmel war von einem klaren, fernen Blau. Sehnsuchtsblau, dachte Blue. Das richtige Wetter, um nach Süden zu ziehen.
Blue stand auf der Fußgängerbrücke, die über die südliche Ringstraße ins ehemalige Industrieviertel führte. Er sah auf die schneebedeckte, sechsspurige Fahrbahn hinab. Da waren sie morgens und abends Stoßstange an Stoßstange dahingerollt: dicke Limousinen, aufgedonnerte Sportflitzer, benzinfressende Geländewagen. Jedes Auto hatte Energie verschwendet, damit ein einzelner Passagier zur Arbeit fahren konnte. Nun, das hatte sich erledigt. Heute fuhr überhaupt niemand mehr.
Aber bald haben wir das hinter uns, dachte Blue. Wir gehen dorthin, wo es warm ist, und fangen neu an. Heute geht’s los. Er wanderte über die Brücke zu dem leeren Einkaufszentrum, wo er sich mit Kristina verabredet hatte.
Die Luft war klar und kalt. Windböen zerrten an Blue, als er über den endlosen Parkplatz ging, der samstags immer so überfüllt gewesen war. Heute war er genauso leer wie das riesige Einkaufsparadies, durch dessen geborstene Wände der Wind fegte. Auf einer Plakatfläche am Eingang flatterte ein halbzerfetztes Werbeposter.
GEWINNEN SIE EINE TRAUMREISE IN DIE SÜDSEE!
»Gern«, murmelte Blue und starrte auf die Kokospalmen. Für Sekundenbruchteile überfiel ihn der verrückte Gedanke, der Supermarkt sei wieder in Betrieb, die Regale wieder gefüllt mit Schmuseweich Weichspüler, Chromdioxid-Cassetten, Walnuß-Eiscreme, Basketballstiefeln und all dem herrlichen Krempel, den es nicht mehr gab.
Aber das war vor vier Jahren zu Ende gegangen. Damals waren die Regale noch voll. Dann begann die Energiekrise und die Nah-Ost-Krise und die
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