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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
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nicht gesehen? Habt ihr euch keine Alternativen überlegt?«
    »Schon«, sagte sein Vater müde. »Aber wir waren uns eben nie einig. Als wir begannen, die Alternativen wirklich ernst zu nehmen, war es schon zu spät dafür. Die Krise war schon da. Und einer Krise kannst du nichts befehlen. Die kümmert sich nicht um Alternativen, die zwingt sie dir höchstens auf.«
    »Schön, schön, war mal wieder keiner schuld. War es eben Zufall, daß ihr uns die Zukunft gestohlen habt.« Blues Hände krampften sich zusammen, als wollte er etwas zerschlagen. »Was können wir denn für eure Fehler? Ich hasse euch alle für eure Dummheit und Gedankenlosigkeit!«
    Sein Vater schien in sich hineinzuhorchen. »Du kannst mich gar nicht so sehr hassen«, sagte er schließlich, »wie ich mich selber hasse.«
     
    Pazifikblau war das Meer, stahlblau war der Himmel. Der Strand glitzerte blendendweiß in der Sonne. Blue lag auf seinem Badetuch und lauschte dem Rauschen der Brandung, dem Flüstern der Palmen, dem fröhlichen Stimmengewirr von Sausalito Beach. Durch seine blaugetönte Sonnenbrille beobachtete er wohlgefällig die vorbeilaufenden Bikinimädchen. Ab und zu nippte er an seinem Cuba Libre und ließ die Eiswürfel im Glas klirren.
    Im Hintergrund spielten die Eagles. Die ganze Sonne Kaliforniens war in ihren Songs. Ah, wie warm das war, wie wunderbar warm …
    Auf der Strandpromenade hinter Blue brodelte das Leben. Die Straßencafés waren vollbesetzt mit sonnenhungrigen Menschen. Buggies und Cabrios mit offenem Verdeck fuhren vorbei; aus ihren Lautsprechern klangen die neuesten Hits. Lässig gekleidete Typen auf Rollerskates kurvten dazwischen umher und swingten im Takt der Musik, die aus ihren Kopfhörern kam. Action! Highlife! Herrlich war es hier.
    »… in Hotel California … fornia … fornia … fornia … fornia …«
    Aus. Vorbei.
    Fluchend rappelte sich Blue auf. »Welcher Idiot hat den Kratzer in die Platte gemacht?«
    Keiner antwortete. Alle hatten sie Mühe, aus ihrer Traumwelt zurückzufinden. Zu plötzlich hatte man sie aus dem Paradies in einen dunklen Keller geschleudert.
    Und der Keller war die Realität.
    Sie starrten sich deprimiert an, Elvis, Skinny Minny, Angel, Duane Eddy und all die anderen.
    »Mist«, sagte Bowie.
    Blue starrte verzweifelt die rissigen Betonwände an, die ihn umgaben, fühlte, wie die Kälte wieder in ihn kroch.
    »Oh shit«, flüsterte er. »Oh shit.«
    Sein Blick heftete sich auf die bunten Reklameplakate, die sie an die Wand geklebt hatten. Levis, Bacardi, Coke, Pepsi, Air France, Wrigley’s. Hochglanzerinnerungen an eine herrliche Zeit, die unter den Fingern zerrieselt war wie Asche. Drachenfliegen, mit dem Chopper rumkurven, in der Sonne liegen, braun werden, rumalbern, lachen, fröhlich sein. Was für ein grenzenloser Optimismus aus diesen Bildern strahlte. Und die Menschen – unbesiegbar sahen sie aus in ihrer begnadeten Sorglosigkeit.
    »Diese Narren«, fluchte Blue. »Sie haben die Welt am kleinen Finger gehabt. Und was haben sie damit gemacht? Sie haben sie auf den Misthaufen geworfen, die Idioten.«
    Seine Stimme schwankte vor Wut. Die anderen sagten nichts, aber er wußte, daß sie genauso dachten.
    Blondie riß die zerkratzte Schallplatte vom Grammophon und warf sie an die Wand. Als sie die Hülle hinterherwerfen wollte, fiel ihr Blick auf das Cover. Sie starrte es lange unverwandt an, dann sank sie in sich zusammen. Mit einem Mal sah sie schwach und hilflos aus.
    »Mit 15 sind sie früher in die Disco gegangen«, preßte sie hervor. »Action, Remmidemmi, bunte Lichter, mal richtig ausflippen … Toll! Und was machen wir?« Tränen flossen ihr plötzlich übers Gesicht, und ihre Stimme wurde undeutlich. »Wir gehen Fressalien klauen, damit wir nicht krepieren. Ich könnte vor Wut an die Wand springen!«
    Elvis murmelte etwas Zustimmendes, die anderen starrten trübe vor sich hin. Wie nach einem Saufgelage, dachte Blue, wenn der große Katzenjammer kommt.
    Und so etwas wie ein Saufgelage war es ja auch gewesen. Nur daß sie sich nicht mit Alkohol betäubt hatten, sondern mit Illusionen.
    Blue sah zu Bowie hinüber. Der spindeldürre, launische Bowie – damals hieß er allerdings noch Roman Koller – hatte diesen Unterschlupf hier vor ein paar Monaten entdeckt.
    »Stellt euch vor«, hatte er aufgeregt erzählt, »ich hab’ das Lager von einer Schallplattengroßhandlung entdeckt. Drei tiefe Keller, und alle bis oben hin voll mit sämtlichen Scheiben, die es je gegeben

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