Jenseits der Finsternis
hat. Zehntausende, sag ich euch!«
»Toll«, hatte Blue sarkastisch geantwortet. »Und womit spielen wir sie ab?«
Ja, womit? Es gab keinen Strom mehr. Keine Batterien. Keine Akkus. Das war alles Vergangenheit.
Aber dann brachte Kristina eines Tages ein Grammophon mit, das sie irgendwo aufgegabelt hatte. Ein antikes Ding mit Schalltrichter und einer Kurbel, mit der man das Laufwerk aufzog. Jetzt konnten sie ihre Musik hören. Natürlich, verglichen mit früher war es ein Witz: kein Hi-Fi, kein Dolby, keine 2 x 80 Watt Sinus. Aber es machte Musik.
Und die Musik war wie ein Zauber. Eine Botschaft aus einer besseren Welt. Für Stunden konnten sie damit vergessen, wo sie waren, und sich vorgaukeln, es sei alles so wie früher.
Der Keller mit seinem unerschöpflichen Musikvorrat wurde Mittelpunkt und Fluchtpunkt ihres Lebens. Mit der Zeit richteten sie ihn ein, so gut es ging, bauten ihn um zu ihrem »Traumpalast«, wie Bowie in doppeldeutigem Spott sagte. Sie schleppten Matratzen herbei, einen nutzlosen Fernseher, Kerzenständer, Teppiche, ein Küchenregal mit ein paar Töpfen und sogar zwei Plastikpalmen in Kübeln. »Das erste Grünzeug, das ich seit langem sehe«, kommentierte Duane Eddy den verstaubten Südsee-Abklatsch. »Sieht richtig gemütlich aus.«
Vor allem aber hingen sie sich die Werbeplakate an die Wand. Denn da war alles drauf, wonach sie gierten: das Jeans-Lebensgefühl, die lässigen Freizeitvergnügen, die Palmenstrände unter blauem Himmel, die funkelnde, faszinierende nächtliche Skyline von Manhattan. Das war Leben. LEBEN!
Wenn man diese Plakate lange genug anschaute und die richtige Musik dazu spielte, darin begannen die Gedanken zu wandern. Dann konnte man fliehen, in eine andere Welt, in eine andere Zeit.
Man konnte mit den Beach Boys vor Kaliforniens Küsten surfen, mit Bruce Springsteen durch die Straßen New Yorks streifen, mit Sergeant Pepper durch phantastische, bunte Märchenreiche ziehen, auf Synthesizerklängen durchs Weltall schweben.
Oder man konnte sich bei ein paar alten Rock-’n’-Roll-Scheiben vorstellen, man würde eine Geburtstagsparty geben. Die Freunde kommen mit Geschenken und einer Menge dummer Sprüche, es wird ein bißchen geschwoft und geknutscht – sehr schön, aber nichts Weltbewegendes. Doch gerade solche alltäglichen Szenen (bloß mal dran zu denken, daß draußen eine Straßenbahn vorbeifuhr!) waren unglaublich fern und exotisch und das Ziel sehnsüchtiger Wünsche. Aber natürlich würde es das nie wieder geben. Das war ein- für allemal verspielt.
»Wenn ich denke, daß wir früher alle mal ’nen Plattenspieler und eine Stereoanlage hatten«, sagte Blue, »und jetzt ist nichts mehr davon übrig. Die ganze Technik, die Autos, die Flugzeuge, die Computer – alles hopsgegangen. Und das in drei, vier Jahren. Ich begreif das nicht.«
»Ist doch klar.« Duane Eddy tappte durch den Raum, um das Feuer zu schüren. In seinem gefütterten, knallbunten Ski-Overall sah er aus wie ein Comic-Bär. »Denen ist das einfach über den Kopf gewachsen. Die haben einfach nicht mehr durchgeblickt, was eigentlich los war.«
»War doch bei uns genauso.« Bowie hauchte seine klammen Finger an. »Jeder von uns hatte eine Stereoanlage, klar. Aber hat einer von euch gewußt, wie so ein Ding funktioniert? Oder der Kühlschrank? Oder das Telefon?« Er sah sich um, aber keiner antwortete. »Na bitte. Das Zeugs war eben da, aber es hatte sich verselbständigt. Wir hatten nichts mehr damit zu tun. Und so ein System von ein paar Spezialisten und einem Haufen von Idioten ist natürlich verdammt anfällig. Schalt den Strom aus, und alles bricht zusammen. Wie ein Kartenhaus, wenn du an ’ner heiklen Stelle eine Karte wegnimmst. Es muß nicht einmal ein Trumpf sein.«
Bowie war ein kluger Kopf, fand Blue. War er schon immer gewesen, schon damals, als sie noch zur Schule gingen. Das Eichendorff-Gymnasium. Tausend Schüler, von denen jetzt vielleicht noch fünfzig lebten … Blue fröstelte.
»Was sollen die Diskussionen. Hinterher sind alle schlauer.« Blockhead, der sich bisher nicht bewegt hatte, stand auf und legte eine neue Platte auf das Grammophon. Brutalmusik peitschte durch den Keller, kreischende Gitarren, monotones Schlagzeug, ein Sänger, dessen brüchige Stimme klang, als hätte er alle Abgründe dieser Welt gesehen und sehnte sich nach dem Tod.
»Joy Division«, sagte Blockhead. »Die Freudenabteilung. Sehr passend.«
Während sie der Musik lauschten, sahen sie zu, wie
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