Jenseits der Finsternis
noch zu sagen? Alles war klar. Sie lauschten der Musik, die die anderen auflegten. Blue spielte den Titel, der ihm seinen Namen gegeben hatte: Van Morrisons It’s all over now, Baby Blue. Es war das vorletzte Exemplar der Platte.
Als sie müde wurden, gab es das übliche Ritual. Sie warfen die Schallplatten, die sie durch das Abspielen zerstört hatten, ins Feuer. Das Vinyl schmolz und tropfte. Wortlos sahen sie zu, wie wieder ein Stück Vergangenheit verlorenging.
Good bye, Alan Parson. Bis bald, John Lennon. I’ll see you on the dark side of the moon.
Dann war das Feuer erloschen. Die meisten gingen. Die Kälte schlich sich wieder in den Keller.
Kristina schauderte. »Wärm mich, Blue«, flüsterte sie. »Mir ist so kalt.«
Sie kletterten in Blues alten Armeeschlafsack und schmiegten sich aneinander, als hinge ihr Leben davon ab.
In den nächsten Wochen wurde es immer schlimmer. Blue hatte geglaubt, ihre Welt sei so erbärmlich, daß sie nicht mehr erbärmlicher werden konnte. Aber das war ein Irrtum.
Zwischendurch brachte ein Südostwind warme Luft heran, mitten im Winter. Der Schnee taute. Es begann zu regnen. Aber der Regen fiel aus Rußwolken, die mit dem seltsamen Wind gekommen waren und nun den Himmel von Horizont zu Horizont verhüllten. Bald ertrank die Stadt in einer schmierigen, grauen Brühe. Matsch bedeckte die Straßen, troff aus den verfallenen Häusern. Es stank wie in einer Kloake. Und unaufhörlich fiel der Regen. Es war trostlos.
Blue stapfte über einen weiten, leeren Platz in einem Neubauviertel am Stadtrand. Wie üblich war er auf der Suche nach etwas zu essen. Seit zwei Tagen hatte er nichts mehr gefunden. Vielleicht gab es hier draußen etwas.
Der Platz war eine Schlammwüste, über die der Wind Wasserschleier trieb. Das Geräusch, mit dem der Regen in den Boden prasselte, erinnerte an einen Geigerzähler. Der Matsch saugte sich an Blues Schuhen fest, schmatzte und gurgelte bei jedem Schritt. Die Hochhäuser am Ende des Platzes waren 30stöckige Grabsteine. Das ganze Viertel hatte bereits die Kälte und entrückte Zeitlosigkeit eines Mausoleums. Leben hatte hier nichts mehr zu suchen.
Blue zog die Kapuze tiefer über sein Gesicht, aber dann peinigte ihn das Gefühl, daß er seinen Blickwinkel zu sehr einschränkte. Jemand konnte sich seitlich an ihn heranschleichen und … Hastig riß er die Kapuze wieder herunter und drehte sich einmal um die eigene Achse.
Der Platz lag so leblos wie zuvor. Doch Blues Herzschlag beruhigte sich nur langsam, und seine Hände zitterten immer noch. Als er sich noch einmal umdrehte, bemerkte er den Farbfleck. Er lief auf das bunte Ding zu. Es war ein Schal, der in einer Pfütze lag. Blue erschrak, als er ihn genauer ansah. Er kannte ihn.
Es war Wildgrubers Schal.
Unwillkürlich trat Blue ein paar Schritte zurück. Der Schal war eine Erinnerung Wildgrubers an seine Frau. Freiwillig würde er ihn nicht hergegeben haben. Das konnte nur eines bedeuten: Wildgruber war tot. Wildgruber, sein ehemaliger Lehrer. Der Mann, dem er das Essen gestohlen hatte.
Den Schal hätte Blue gut gebrauchen können. Aber ein undeutliches Gefühl hielt ihn davon ab, das verdreckte Wollknäuel aufzuheben. Schuld? Trauer? Respekt? Blue wußte es selbst nicht. Nur das wußte er: Er wünschte, dies wäre ein Traum. Er wünschte, er könnte seinen Körper verlassen und wegfliegen, irgendwohin, nur weg von hier.
An diesem Tag fand Blue nichts mehr zu essen. Er kam wortlos und mit leeren Händen heim. Seinen Eltern schien es gleichgültig zu sein. Sie waren sowieso kaum mehr ansprechbar. Er ging wieder weg.
Nur Kristina bewahrte ihn an diesem Abend davor, alles hinzuschmeißen. Sie war ziemlich durcheinander, denn sie war durch eine morsche Treppe gebrochen und böse gestürzt. Aber sie hatte eine Vakuumpackung mit gesalzenen Erdnüssen gefunden, die sie mit Blue teilte.
»Wie früher beim Fernsehen«, sagte sie, während sie eine einzelne Nuß aus der Dose nahm.
»Ja, hab ich mir auch gerade gedacht«, erwiderte Blue gedankenverloren. »Fernsehen!« Er lachte.
Danach lagen sie reglos im Dunkeln zusammen. Blockhead tanzte und kreischte. Bowie und Blondie diskutierten flüsternd darüber, was wohl aus Duane Eddy geworden war, den seit drei Tagen keiner mehr gesehen hatte.
»Sie kommen aus den U-Bahn-Schächten heraus.« Blondies Stimme zitterte. »Sie lauern uns auf.«
Ihre Furcht war verständlich. Die U-Bahn-Schächte waren früher der bequemste Zufluchtsort gewesen.
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