Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Nagula
Vom Netzwerk:
über ihm im Wind hin und her.
    Er fühlte sich elend. Er hatte einem Mann das letzte Essen gestohlen – einem Mann, der sogar ein paar menschliche Regungen gezeigt hatte. Und schockartig wurde ihm plötzlich klar, daß er diesen Mann tatsächlich kannte. Es war Wildgruber, sein früherer Deutschlehrer. Damals in der 7b, vor vier Jahren, als er zum letztenmal in die Schule ging.
    Was für ein trauriger Witz. Ordentliche, nette Kinder waren sie damals gewesen, in einer ordentlichen, netten Schule mit einem ordentlichen, netten Lehrer. Jetzt waren sie hungrige, unbarmherzige Wölfe, die auf alles Jagd machten, was man essen oder verheizen konnte.
    »Ist nicht meine Schuld, Herr Wildgruber. Tut mir leid, Herr Wildgruber«, sagte er, um sich zu beruhigen. Er führte öfter Selbstgespräche; das gab ihm das Gefühl, nicht so allein zu sein.
    Den Gulaschkessel eng an sich gedrückt, machte er sich auf den Heimweg. Wenn Wildgruber jetzt starb? Er schob den Gedanken zur Seite. Und wenn schon – seine Eltern waren schließlich wichtiger. Die Familie war überhaupt das Wichtigste. Irgendeinen Halt mußte man doch haben, ein Zuhause, jemand, für den man noch Gefühle empfand.
    Es war schon dunkel, als er das Vorstadtviertel erreichte, wo er mit seinen Eltern wohnte. Früher war es eine noble Villengegend gewesen, eine sogenannte gute Adresse, wo Leute mit viel Geld residierten. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Es war nur noch ein Trümmerhaufen, in dem gelegentlich eine pseudo-griechische Säule, ein schmiedeeisernes Gitter oder ein fast verschütteter Swimming-pool an die vergangene Pracht erinnerten. Sogar von der mächtigen Platanenallee waren nur noch Stümpfe übrig; alles andere war verheizt.
    Vor dem Haus Nr. 52 blieb er stehen. Natürlich hatten sie die Fenster wieder nicht verdunkelt. Wenn sie jetzt Feuer machten, würde das Licht Gesindel wie Motten anlocken.
    »Verdammter Leichtsinn«, murmelte er. Seine Eltern waren so gleichgültig. Alles war ihnen egal. Sie waren mit Sechszylindern, Farbfernsehen, Weltreisen und allem Überfluß aufgewachsen und konnten einfach nicht begreifen, was aus ihrer schönen alten Welt geworden war. Wahrscheinlich hockten sie jetzt wieder oben im Dunkeln und warteten auf ein Wunder oder auf den Tod. Aber das war vielleicht dasselbe.
    Durch das Treppenhaus jaulte der Wind. Ab und zu brach ein Eiszapfen ab und prallte mit leisem Klingeln gegen das Geländer. Das Knirschen des Schnees unter seinen Stiefeln hallte wie das Echo aus einer fernen Geisterbahn. Willkommen im Eispalast.
    Er schloß die Tür auf und schob sich schnell hinein, um möglichst wenig von der kostbaren Wärme nach draußen zu lassen. Mit einem betont optimistischen Grinsen stellte er den Kessel auf den Tisch.
    »Frohe Weihnachten«, sagte er. »Gulasch nach Art des Hauses: kalt und geklaut.«
    Seine Eltern saßen, in Decken gehüllt, regungslos auf ihren Matratzen. Wie Opiumraucher saßen sie da, still, entrückt, mit halboffenen Augen. Sie frönten ihrer Lieblingsdroge: Erinnerungen.
    Aber seine Mutter stand immerhin auf und schlurfte zu dem Kessel. »Tatsächlich«, sagte sie ungläubig. »Gulasch.«
    Für einen Augenblick befürchtete Blue, sie würde vor dem Kessel auf die Knie fallen.
    Später, als sie gegessen hatten und in das verglimmende Herdfeuer starrten, fühlten sie zum erstenmal seit vielen Monaten so etwas wie einen Hauch von Glück.
    »Danke, Junge«, sagte Blues Vater. »Ich … ich hätte nicht geglaubt, daß ich so etwas Gutes noch einmal zu essen bekommen würde.«
    »Ich habe es Herrn Wildgruber gestohlen, meinem früheren Deutschlehrer.« Blues Stimme war schroff. »Ein freundlicher, netter Mann – immer noch. Ich habe ihm in den Bauch getreten und bin mit seinem Essen davongerannt. Vielleicht verhungert er jetzt.«
    Die Kälte stand wieder im Raum. Blues Mutter machte eine unbehagliche Geste.
    »Warum sagst du so etwas?«
    »Weil es die Wahrheit ist. Wollt ihr sie nicht hören?«
    »Du bist so zornig. Früher warst du so ein netter Junge.«
    »Früher, früher!« Blue brauste auf. »Ihr seid schließlich selber daran schuld, daß es nicht mehr so wie früher ist. Ihr alle, eure ganze Generation. Ihr habt alles zugrunde gerichtet mit eurer Gedankenlosigkeit.« Er wandte sich an seinen Vater. »Du hast doch Einfluß gehabt. Du warst in so vielen Verbänden, Gremien, Ausschüssen. Was habt ihr da eigentlich gemacht? Habt ihr nur Ausschuß produziert in euren Ausschüssen? Habt ihr die Krisen

Weitere Kostenlose Bücher