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Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Favel Parrett
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Fischfabrik drückte man in dieser Hinsicht ein Auge zu. Sie stellten keine Fragen. Und Dad schon gar nicht.
    Als das Netz leer war, überprüfte Miles die Abalone. Die meisten steckten wieder ineinander, sammelten sich in den Ecken der blauen Plastikwannen. Er griff in eine der Wannen und nahm eine Abalone heraus, hielt sie verkehrt herum. Das schwarze, schleimige, scheibchenförmige Fleisch zuckte vor der kalten Luft zurück, ein kräftiger Muskel. Berührte man ihn, würde er sofort zupacken, sich hart an der Haut festsaugen. Es war seine einzige Möglichkeit zur Verteidigung.
    Früher hatte Miles Mitleid mit den Abalonen gehabt. Wie sie in den Wannen pulsierten und sich bewegten, weil sie das helle Licht und die Hitze spürten. Jetzt durfte er so nicht mehr denken. Er achtete nur darauf, nicht in sie hineinzuschneiden oder sie anders zu verletzen, denn wenn Abalone einmal bluteten, hörten sie nicht mehr auf, bis all ihre Flüssigkeit ausgelaufen war. Sie trockneten aus und starben.
    Miles sah auf, als Martins kahler Kopf im Wasser auftauchte. Er warf die Abalone in die Wanne zurück, beobachtete, wie Martin sich an Deck zog und am Heck sitzen blieb. Er war ein bulliger Mann, nichts als ein dicker, breiter Rücken und ein dicker, breiter Nacken. Und nie trug er einen Kopfschutz, sodass sein Schädel immer rot vor Kälte war. Aber Martin war anders, als er aussah. Er war nicht wie Dad.
    Martin nahm Sauerstoffmaske und Mundstück ab. Er sagte nichts. Er holte Luft. Er atmete mit gesenktem Kopf in tiefen Zügen ein und aus. Miles stand einen Moment lang abwartend hinter ihm. Dann machte er sich daran, das Netz einzuholen, das Martin mit hochgebracht hatte, aber Martin stand auf und stoppte ihn.
    »Ich bin der, der hier bezahlt wird«, sagte er und zwinkerte.
    Miles trat zurück und beobachtete Martin bei der Arbeit. Er beobachtete seine Hände – sie waren schnell und behutsam. Sie hielten niemals inne, auch nicht, als er mit seinen blutunterlaufenen Augen über das Wasser blickte. Kein einziges Mal rutschte ihm das Werkzeug aus der Hand, kein einziges Mal zögerten seine Hände. Sie lösten die Abalone voneinander und sortierten sie so lange, bis das Netz leer war. Dann legte er das Schalenmesser beiseite, ging in die Kajüte und goss sich aus einer der Thermoskannen Tee ein. Er gab Miles eine Tasse.
    »Sie werden bald auftauchen«, sagte er.
    Miles zog die Handschuhe aus und umschloss die warme Tasse mit seinen bloßen Fingern. Die Sonne stand jetzt hoch und hatte die schwarze Farbe des Wassers in ein tiefes Blau verwandelt, und das weiße Wasser, das um die Felsen schäumte, war so hell vor dem Himmel, dass es blendete. Es musste mindestens zehn Uhr sein, vielleicht schon elf.
    Eine Robbe ruhte sich in der Dünung aus, Kopf und Hals ragten aus dem Wasser, und Miles konnte ihre schwarzen Augen sehen, die langen Barthaare. Die Robbe sah zum Boot herüber, sie sah Miles direkt an und schnupperte in die Luft, als wüsste sie genau, was gestohlen worden war. Was sich auf dem Boot befand. Sie öffnete ihre Schnauze und stieß einen heiseren Protestruf aus, ehe sie wieder unter der Oberfläche verschwand.
    Jeff taumelte an Bord. Sein Gesicht war violett, eingequetscht vom Kopfschutz. Er pellte sich daraus hervor, befreite seinen Kopf und setzte sich ans Heck des Bootes.
    »Gut, dich so hart arbeiten zu sehen, Miles«, sagte er.
    Miles sah auf die Blechtasse in seinen Händen. Er hatte erst einige Schlucke genommen, aber er schüttete den Rest über die Reling und brachte die Tasse zurück in die Kajüte. Er ging hinüber zu Jeff, nahm Schwimmflossen, Handschuhe und Kopfschutz entgegen und legte sie in die Wanne mit Frischwasser. Über dem Geräusch des Wassers und dem Geräusch des Bootsmotors konnte er Jeffs Atem hören. Jeffs schweren Atem. Jeff blieb, wo er war. Er versuchte nicht einmal, aufzustehen. Er saß einfach da, seine Gesichtshaut war noch immer violett.
    Martin lief auf dem Boot hin und her. Er hielt den schlaffen Luftschlauch in seinen Händen und hielt Ausschau über das Wasser. Miles beobachtete, wie sein Blick über die Oberfläche flog. Dad war schon eine ganze Weile da unten.
    Miles sah über die Reling.
    In der unergründlichen Dunkelheit, im wirbelnden Kelp, konnte man nur auf die eigene Hand an der Felswand vertrauen, die einen führte, während man sich blindlings mit den Beinen hinabstieß. Dort unten, wo die Algen dick auswucherten und der Kontinentalschelf sich absenkte, waren sie: die

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