Jenseits der Untiefen
H arry stand im Sand und schaute über den breiten, geschwungenen Strand von Cloudy Bay. Alles war sauber und golden und frisch, der Himmel fast violett im Winterlicht, und er wünschte sich, keine Angst zu haben. Seine Brüder ließen ihn schon wieder allein, Miles, der halb in seinem Neoprenanzug steckte, und Joe, der aufrecht dastand und gedankenverloren aufs Wasser sah.
Das Wasser, das immer da war. Das immer überall war. Sein Geräusch, sein Geruch und die kalten Wellen ließen ihn den Unterschied zu seinen Brüdern spüren. Und das lag nicht nur daran, dass er der Jüngste war. Er wusste, dass ihn dieses Gefühl, das er dem Ozean gegenüber empfand, nie mehr verlassen würde. Es würde da sein für immer, tief in ihm.
So war das.
»Was soll ich finden?«, fragte er.
Joe schüttelte heftig seinen Neoprenanzug aus. »Ähm … Eine Sepiaschale, ein schönes Stückchen Treibholz …«
»Ein Haifischei«, sagte Miles.
Es war still.
Harry wartete darauf, dass Miles sagen würde, er mache nur Witze, wartete darauf, dass er irgendetwas sagen würde, aber Miles sagte nichts. Er wachste weiter sein Brett.
Also lief Harry los.
Er folgte den Spuren, die die Flut im Sand hinterlassen hatte, und sein Blick flog über Kiesel, glänzende Quallensäckchen und zerbrochene Muschelschalen. Sepiaschale war leicht, aber Haifischeier waren unmöglich. Sie sahen wie Seetang aus. Sobald er glaubte, ein Ei gefunden zu haben, musste er feststellen, dass es Kelp war oder ein schmutziger Stein. Es hatte wenig Sinn, es zu versuchen. Er versuchte es trotzdem. Er fand immer das, was er finden sollte. Immer.
Ein Kormoran glitt dicht über dem Wasser dahin, sein weicher weißer Bauch streifte fast die Oberfläche, und Harry sah zu, wie er sich bewegte. Er sah ihn langsamer werden und auf einem Felsen am Ufer landen. Er ging nah heran, ging direkt auf den Felsen zu, aber der Vogel rührte sich nicht. Blieb reglos. Harry hatte noch nie einen einzelnen Kormoran gesehen. Nicht so, an Land. Kormorane waren immer in der Gruppe. Sie drängten sich auf Felsen und Klippen zusammen, ihre langen Hälse hinaufgereckt zur Sonne. Manchmal blieben sie den ganzen Tag so. Gemeinsam. Wartend und wachend. Ruhend.
Der Vogel stieß einen leisen Ruf aus, und Harry war so nah, dass er spürte, wie der Laut in ihm nachhallte. Er wollte seine Hand ausstrecken und den Vogel berühren, über die seidig schimmernden Federn auf seinem Rücken streichen. Aber Harry bewegte sich nicht, hielt seine Arme still an den Seiten. Er überlegte, ob der Kormoran vielleicht krank wäre. Ob er die anderen vielleicht nicht fand. Und er wusste nicht, wie sie es schafften, wie sie überlebten. Wie sie über so viel Ozean fliegen konnten, im Wind und im Regen. Wie sie in das kalte Wasser tauchen konnten.
Manchmal wurden sie mit der Brandung angespült, die Verlorengegangenen.
Der Vogel rief noch einmal. Sein Kopf ruckte auf und ab, er spreizte die Flügel, dann war er weg.
Harry verließ den Strand und wagte sich in die Dünen. Vielleicht würde er hier ein schönes Stück Treibholz finden oder wenigstens irgendetwas Interessantes. Er lief in den kleinen Buckeln und Tälern auf und ab, und der lockere Sand unter seinen Füßen wurde fester. Er lief weiter. Den Strand konnte er jetzt kaum noch sehen. So weit hatte er sich noch nie entfernt. Er wurde langsamer, begann zu gehen. Er sah nach vorn, dorthin, wo es eine Art Lichtung gab, niedrige Bäume ringsum. Büsche. Der Platz war ausreichend geschützt, der Wind würde nicht bis hierher vordringen, selbst wenn es richtig stürmte. Man könnte hier zelten. Man könnte hier bleiben, und es wäre gut.
Hinter einem Busch lagen Muschelschalen. Ein riesiger Haufen – alt und brüchig und weiß von der Sonne. Austern und Miesmuscheln, Pipi-Muscheln und Venusmuscheln, der Panzer eines riesigen Krebses. Harry hob die Schale einer Abalone auf, die Kanten lose und staubig in seinen Händen. Und jede Zelle seines Körpers erstarrte. Spürte ihn, diesen Ort. Spürte die Menschen, die zuvor hier gewesen waren, geatmet hatten und lebendig dort gestanden hatten, wo er stand. Menschen, die längst tot waren. Längst verschwunden. Und Harry verstand instinktiv, dass die Zeit endlos weiterging und dass er eines Tages sterben würde.
Die Haut an seinen Händen kribbelte und prickelte.
Er ließ die Schale fallen und rannte.
Er hatte ewig warten müssen, aber schließlich kam Joe an Land. Miles blieb noch draußen. Er war so weit weg,
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