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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sie sie ganz bestimmt sehen und mit wenigen donnernden Schritten herkommen, um sie zu zertreten. Aber sie sputeten sich nicht. Ihre hünenhaften Gliedmaßen brauchten Zeit, um sich aus der Essenz
    herauszuziehen; ihre Köpfe - so groß wie Häuser mit
    erleuchteten Fenstern - waren gewaltig und brauchten die gesamte Maschinerie der Körper, bevor sie sich erheben konnten. Als sie sich wieder der Hütte zuwandte, löste sich der 762
    Anblick der Invasoren vor ihrem geistigen Auge auf, und ihr Verstand versuchte, einen Zusammenhang in ihr titanisches Geheimnis zu bringen.
    Die Tür der Hütte war selbstverständlich geschlossen. Aber nicht verschlossen. Sie machte sie auf.
    Kissoon wartete auf sie. Sie bekam keine Luft mehr, so schlimm war der Schock seines Anblicks, und sie wollte gerade wieder in die Sonne zurückweichen, als ihr klar wurde, daß der Körper, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte, keine Seele mehr in sich hatte und nur noch der Stoffwechsel darin tickte, um ihn vor dem Verfall zu bewahren. Hinter den glasigen Augen war niemand. Die Tür schlug zu, und sie vergeudete keine Zeit mehr, sondern wandte sich unverzüglich an die einzig mögliche Seele, die den Augenblick anstelle von Kissoon festhalten konnte.
    »Raul?«
    Eine unsichtbare Präsenz wimmerte in der abgestandenen Luft der Hütte.
    »Raul? Um Gottes willen, ich weiß, daß du hier bist. Ich weiß, daß du Angst hast. Aber wenn du mich hören kannst, dann zeig es mir irgendwie, ja?«
    Das Wimmern wurde intensiver. Sie hatte den Eindruck, als würde er in der Hütte kreisen wie eine im Glas gefangene Fliege.
    »Raul, du mußt loslassen. Vertraue mir und laß los.«
    Das Wimmern fing an, ihr Schmerzen zu bereiten.
    »Ich weiß nicht, was er dir angetan hat, damit du deinen Körper aufgibst, aber ich weiß, es war nicht deine Schuld. Er hat dich überlistet. Er hat dich belogen. Dasselbe hat er mit mir gemacht. Verstehst du? Dich trifft keine Schuld.«
    Die Luft wurde ein wenig ruhiger. Sie holte tief Luft und begann erneut mit ihren Beschwörungen; sie erinnerte sich daran, wie sie ihn damals dazu gebracht hatte, mit ihr zusammen die Mission zu verlassen.
    763
    »Wenn jemand Schuld hat, dann ich«, sagte sie. »Verzeih mir, Raul. Wir sind beide am Ende angelangt. Aber wenn es ein Trost für dich ist - Kissoon auch. Er ist tot. Er kommt nicht mehr zurück. Dein Körper... kommt nicht mehr zurück. Er wurde zerstört. Es gab keine andere Möglichkeit, Kissoon zu töten.«
    Der Schmerz des Winselns war einem anderen, tiefer empfundenen Leid gewichen: dem Wissen, wie sehr seine Seele leiden mußte, losgelöst und ängstlich und außerstande, den Augenblick loszulassen. Kissoons Opfer, das waren sie alle beide.
    In gewisser Weise waren sie einander so ähnlich. Beide Nunciaten, die lernten, ihre Grenzen zu überwinden. Seltsame Bettgenossen, aber nichtsdestotrotz eben doch Bettgenossen.
    Dieser Gedanke führte zu einem anderen.
    Sie sprach ihn aus.
    »Können zwei Seelen im selben Körper wohnen?« sagte sie.
    »Wenn du Angst hast... komm in mich hinein.«
    Sie ließ diesen Vorschlag wirken und bedrängte ihn nicht weiter, weil sie befürchtete, seine Panik könnte eskalieren. Sie wartete neben der kalten Asche des Feuers und wußte, jede Sekunde, die ungenutzt verstrich, verbesserte die Position der Iad, aber sie hatte keine Argumente oder Angebote mehr. Sie hatte ihm mehr geboten als jedem anderen in ihrem Leben: den uneingeschränkten Besitz ihres Körpers. Wenn er darauf nicht einging, hatte sie keine Argumente mehr.
    Nach ein paar atemlosen Sekunden schien etwas über ihren Nacken zu streichen, wie die Finger eines Liebhabers, doch aus der Zärtlichkeit wurden unvermittelt Nadelstiche.
    »Bist du es?« sagte sie.
    Im selben Augenblick, als sie die Frage stellte, richtete sie sie auch schon an sich selbst, da seine Seele in ihren Kopf eindrang.
    Keine Worte wurden gewechselt, und es war auch nicht
    nötig, Worte zu wechseln. Sie waren Zwillingsgeister in 764
    derselben Maschine, und im Augenblick seines Eindringens in völliger Übereinstimmung miteinander. Sie las in seinen Erinnerungen, wie Kissoon ihn überlistet hatte, wie er ihn aus dem Badezimmer im North Huntley Drive in die Schleife gezogen und seine Verwirrung dazu benützt hatte, ihn zu überwältigen. Er war leichte Beute gewesen. Bleischwerer Rauch hatte ihn niedergedrückt, und er war hypnotisiert worden, eine, und nur eine einzige, Pflicht zu erfüllen, nämlich den Augenblick

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