Jenseits des Karussells: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
offensichtliche Zeichen hinterließ, wie geweitete Pupillen oder verfärbte Zunge oder Lippen, hatten Ärzte wenig Anlass, einen natürlichen Tod zu bezweifeln. Das Fehlen von Blut im Körper mochte allerdings auffallen, falls ein Mediziner tatsächlich danach suchte. Nur warum sollte er?
Menschliche Wissenschaften entwickelten sich fortwährend weiter, und der Feyon zweifelte nicht daran, dass die Medizin schließlich so große Entwicklungssprünge machen würde wie die Technik. Noch war er allerdings sicher, solange niemand mit arkanen Kenntnissen seine Opfer untersuchte, und wer hatte die schon?
Dennoch zog er es vor, nicht zu töten. Seine Beute lebte einfach weiter, ohne je zu wissen, was ihr geschehen war. Es war besser so. Das Töten der Beute war Ausdruck triumphierender Macht. Doch er hatte es nicht nötig, seine Überlegenheit zu beweisen. Er war überlegen und wusste es.
Er mochte Menschen wegen ihres Blutes und wegen ihrer Leidenschaft, wegen des Vergnügens, das sie ihm für so wenig Gegenleistung schenkten. Die Genugtuung, die er dabei fühlen mochte, einen von ihnen umzubringen, war vernachlässigbar, denn es war viel zu einfach. Sie waren so gänzlich ohne Arg, eine Beute, die nicht einmal genug Angst und Augenmerk besaß, um misstrauisch zu sein. Von wenigen – gefährlichen – Ausnahmen abgesehen wussten sie nicht einmal, wie man ihm widerstehen könnte. Sie lehnten sich in seinen Armen zurück, drehten ihren Kopf zur Seite und wandten ihm ihre Kehlen zu – und dabei lächelten sie erwartungsfroh.
Seine Zurückhaltung war freiwillig und gründete sich auf Vernunft. Freier Wille und Vernunft waren ihm beide gegeben, solange er nicht zu hungrig wurde. Hatte er jedoch eine gewisse Grenze überschritten, dann schlug sein Hunger in Raserei um und trug ihn weit über freien Willen und Vernunft hinaus. In solch einem Zustand tötete er, ohne sich dabei schlecht zu fühlen.
Vielleicht, so grübelte er, würde er Ian töten müssen. Wenn ja, so nicht aus Hunger, obgleich er den Drang verspürte, den jungen Mann zu kosten. Ein netter Junge, jugendlich und unerfahren, ein wenig verwirrt durch plötzliche Sehnsüchte, denen er sich nicht stellen wollte. Er war sich seiner selbst bewusst, und in diesem Bewusstsein hatte er sich bereits als Beute erkannt. Sein Kopf war voller Wissen, und doch war er von entzückender Unwissenheit. Dennoch, er verstrahlte eine nüchterne Ernsthaftigkeit, die seinem Alter weit voraus war. Sein Feyon-Abenteuer hatte ihm neue Talente und neue Einsichten beschert und ihn mehr als nur in einem Aspekt verändert.
Doch dieser Aspekt war es, der Graf Arpad besonders reizte. Der Vampir hatte eine feste Liebschaft, Cérise Denglot, doch er war nicht im Mindesten monogam, weder durch Neigung, noch aus freien Stücken. Er konnte nicht monogam sein. Mit nur einem Menschen, von dem er sich nähren konnte, würde er diesen Menschen unweigerlich zum Tode verurteilen. Er würde an Blutverlust sterben, so wie Charly – Charlotte von Orven hieß sie jetzt – fast gestorben war. Die süße Charly, von der er tagelang getrunken hatte, als sie gemeinsam in einem Berg verschüttet gewesen waren. Charly, die zu mögen und zu achten er gelernt hatte und die ihm zu der Erkenntnis verholfen hatte, dass er seine wilde Natur weitaus länger als geglaubt zurücknehmen konnte, wenn er sich wirklich große Mühe gab. Freilich nicht für immer.
Er sah ein Mädchen, das vor ihm die Straße entlangeilte und schließlich in eine Seitengasse einbog. Ein hübsches Dienstmädchen, vielleicht siebzehn. Menschliche Hierarchien hatten nicht den mindesten Einfluss auf seinen Geschmack. Blond war die junge Frau und hübsch gebaut und – er konnte es wohl spüren – kein Neuling auf dem Gebiet der Leidenschaft. Vielleicht war sie verheiratet? Oder sie hatte heimlich außerhalb des Erlaubten geliebt. Einerlei. Sie war keine Jungfrau. Erfahrene Frauen wussten ihn ohnehin meist besser zu unterhalten.
Eine „Jungfrau“ konnte er später immer noch haben. Eine männliche Jungfrau. Einen Jüngling, der tatsächlich glaubte, Abstinenz würde seine Konzentrationsfähigkeit verbessern. Was Bewusstseinserweiterung anging, so stand für den Jungen eine gänzlich neue Unterweisung an. Vielleicht würde er sie ja überleben. Man würde sehen müssen. Auf nüchternen Magen Entscheidungen zu fällen, empfahl sich nicht. Hunger machte ihn immer ein wenig skrupellos.
Der Feyon lächelte und eilte dem Mädchen nach. Sein
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