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Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Jenseits des Nils: Roman (German Edition)

Titel: Jenseits des Nils: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole C. Vosseler
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ihren jüngsten Sohn verloren hatte.
    Wir haben zwar unseren Sohn verloren, aber wir haben eine Tochter dazugewonnen – zumindest hoffen wir das, liebe Ada. Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen, als sie an Lady Alfords Worte dachte, und tropften auf das Leder der Mappe. Mit unsicherer Hand wischte Ada sie weg. Die Zeit mit den Digby-Jones, die mit ihr in die Oper und ins Konzert, ins Museum und nach Kew Gardens gegangen waren, hatte ihr in Erinnerung gerufen, dass es nicht nur Leid und Schmerz gab im Leben. Sondern auch Musik und Kunst und Blumen und Freude. Und Menschen gab es, die sie liebten und die nicht wollten, dass es ihr schlechtging. Die Digby-Jones selbst und Simons drei viel ältere Halbbrüder, die so liebenswerte Ehefrauen hatten und so herzige Kinder. Der Colonel und Lady Norbury. Stephen und Becky. Adas Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln, als sie an das stille Glück der beiden dachte, und bekam einen schmerzlichen Zug, als ihr einfiel, dass Stephen nie wieder ganz gesund würde. Royston. Grace.
    Grace . Ada ließ den Kopf hängen, und neue Tränen schossen ihr in die Augen. Sie verging vor Scham und vor Schuld. Ihre eigene Stimme schrillte ihr noch im Ohr, mit der sie Grace so hässliche Dinge entgegengeschleudert hatte und für die sie sich vielleicht niemals mehr entschuldigen, die sie nie wieder zurücknehmen konnte. Nur weil Ada ihr das bisschen Hoffnung neidete, dass ihr Liebster vielleicht doch noch am Leben war; dieses winzige Zipfelchen Hoffnung, das Ada selbst nicht vergönnt gewesen war. Und die Schuld, so kleinlich und so niederträchtig empfunden und gehandelt zu haben, lastete schwer auf Adas schmalen Schultern. Es half ihr nicht, dass sich weit hinten in ihrem Kopf der Gedanke zu regen begonnen hatte, dass der Zorn, mit dem sie auf Grace losgegangen war, sich als ein für sie heilsamer herausgestellt hatte. Ein Zorn auf die Ungerechtigkeit des Schicksals, das ihr den Liebsten genommen hatte; ein Zorn aber auch, der bewies, dass noch nicht alles tot war in ihr. Wenn er auch den falschen Menschen getroffen hatte, einen der Menschen, die Ada über alles auf der Welt liebte.
    »Es tut mir leid, Gracie«, wisperte Ada unter Schluchzern. »Hörst du? Wo immer du jetzt bist – es tut mir von Herzen leid.« Und bitte – bitte komm heil zurück. Bald. Mit Jeremy.
    Sie schniefte und rief sich zur Tapferkeit. Mit dem Saum des anderen Ärmels tupfte sie sich die Augen trocken und schlug die Mappe auf, blätterte all die Schreiben und Dokumente darin durch: das Ergebnis ihres fleißigen Briefeschreibens der letzten Wochen. Wie auf eine stumme, wortlose Frage hin nickte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre laufende Nase. Ihre Finger wanderten hinunter, an das seitliche Ende der Bank. Über ihr Gesicht huschte ein kleines, flatteriges Lächeln, als ihre Fingerspitzen über die Rillen tasteten. Ein eckig geratenes, schiefes Herz, in dem sich die Buchstaben A und S vereinten. Ada und Simon. Im schwindenden Licht eines späten Sommerabends hatte er sie hierhergeführt und ihr gezeigt, was er am frühen Morgen, noch vor dem Frühstück, in den Stein eingeritzt hatte. Danke, Simon. Für alles.
    Sie schlug die Mappe wieder zu und betrachtete sie eingehend. Du schaffst das, Ada. Das weiß ich.
    »Ja«, flüsterte sie. »Ja, ich schaffe das.«
    Die Mappe mit überkreuzten Armen an sich gedrückt, kehrte Ada ohne Umwege zum Haus zurück, hängte ihren Mantel auf und ging dann mit entschlossen hochgerecktem Kinn den Korridor entlang, pochte mit den Fingerknöcheln gegen das Holz der Tür.
    »Herein!«
    »Entschuldige bitte, dass ich dich störe, Papa«, sagte Ada, als sie eintrat und die Tür hinter sich schloss. »Es wird auch nicht lange dauern. – Ja, mein Lieber, ja«, hauchte sie Henry zu, der aus seinem Korb vor dem Schreibtisch auf sie zugejagt kam und jaulend an ihr hochsprang. Mit der freien Hand strich sie ihm über den Kopf.
    »Was hast du auf dem Herzen?« Der Colonel setzte seineBrille ab und gab sich alle Mühe, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen, dass es ausgerechnet Ada war, die ihn in seinem Arbeitszimmer aufsuchte.
    Ada holte ein mehrseitiges Dokument aus der Mappe und legte es vor ihren Vater auf den Schreibtisch, in den Lichtkreis der Lampe. »Unterschreibst du mir das bitte?«
    Der Colonel setzte seine Brille wieder auf, und er zog eine Braue hoch, als sein Blick auf die Überschrift des Dokumentes fiel und er die erste Seite überflog.
    »Mein

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