Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
Bibliothek und den ersten Schritten als zukünftiger Herr über Shamley Green aufteilte, lernte Lady Norbury seine Verlobte an, ihr eines Tages nachzufolgen.
Der Gedanke an Connie war zu einem andauernden Schmerz geworden. Kein starker Schmerz, doch ein Schmerz, der nie nachließ und der ihn deshalb zermürbte, mehr noch als der pochende Schmerz im Bein und in der Hüfte, der seine Tage und Nächte seit seiner Verwundung vor so vielen Jahren begleitete. Connie, die er im selben Haus, unter demselben Dach wusste und die er jeden Tag sah – und die ihm doch so fern war. Er wusste, sie erwartete eine Art Abbitte von ihm, und doch war er sich im Grunde keiner Schuld bewusst. Er hatte nur getan und verlangt, was er für richtig hielt. Von seinen Kindern. Von ihr. Und nicht zuletzt von sich selbst. Warum sollte er dafür um Verzeihung bitten? Stolzer Zorn mischte sich mit Sehnsucht, der Sehnsuchtnach Connies Nähe, nach ihrem warmen Leib nachts im Schlaf, nach der Zärtlichkeit, an der es ihm selbst mangelte und von der sie im Überfluss geben konnte.
Er schob alle diese Gedanken, jede Empfindung beiseite, zog dafür einen Stapel Bewerbungsunterlagen zu sich heran und vergrub sich in seiner Arbeit.
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Hartnäckig sind unsere Sünden , waberte es durch Jeremys Kopf. Er lachte auf, ein hohes, dünnes Lachen, das ihm selbst fremd war. »Verschwenderisch ... verschwenderisch entrichten wir unsere Bekenntnisse«, murmelte er mit rauer Kehle vor sich hin, die Verse in quälender Langsamkeit aus seinem Gedächtnis zusammenklaubend. »Und kehren ... kehren freudig zurück auf den sumpfigen Pfad ...« Im Glauben, gemeine Tränen wüschen fort unsere Schande. Er lachte wieder, darüber, dass Baudelaire wohl schon in Omdurman gewesen sein musste. ... und wir füttern unsere liebenswürdigen Gewissensbisse. Wie Bettler nähren ihr Ungeziefer.
Jeremy hatte schon lange keine Kraft mehr, die Fliegen zu verscheuchen, die sich surrend auf seine Wunden setzten; all das winzige Getier, das über ihn hinwegkrabbelte und in seine Haut biss und stach. Hier, in einem Winkel des Saier , in dem er wieder zu sich gekommen war. Überall in seinem Körper pochte und brannte es. Er hob seine Hand, so weit die Kette es zuließ, die an die Eisen an seinen Handgelenken geschmiedet und an einem in der Wand eingelassenen Ring befestigt war. Vorsichtig betastete er die mit getrocknetem Blut geränderten Striemen auf seinem Rumpf; die harten, puckernden Beulen, die sich gebildet hatten und die die Haut spannen ließen.
Engel voll der Freude, kennst du die Todesangst? Die Scham, die Reue, das Heulen und den Kummer. Und die unbestimmbaren Schre cken der furchtbaren Nächte. Die das Herz zusammendrücken, wie man ein Papier zerknüllt. Engel voll der Freude, kennst du die Todesangst?
Jeremy hatte keine Angst. Er sah dem Tod freudig entgegen. Ob sein Vater auch so empfunden und gedacht hatte, damals, auf der Krim? Mit seinen zerschossenen Gliedern, in die sich der Wundbrand fraß? Während sie ihm beide Beine und den Arm amputierten, während die Säge durch Fleisch und Knochen drang und man ihm nichts geben konnte, um ihn zu betäuben oder um die Schmerzen zu lindern? Sein Vater, der sich in seinem Rollstuhl nur schlecht fortbewegen konnte und deshalb beinahe den ganzen Tag reglos darinsaß. Nur seine Augen hatten sich von Zeit zu Zeit gerührt, sich aus der Stumpfheit gelöst, mit der sie vor sich hin stierten, auf den kleinen dunkelhaarigen Jungen vor sich gerichtet, dessen Augen unverwandt auf ihn geheftet waren. Augen, den seinen zum Verwechseln ähnlich, in denen ein unbestimmter Hunger, ein vages Verlangen brannte. Das befremdete Erstaunen in den Augen des Vaters war in Abwehr übergegangen, schließlich in Hass. Sarah!, hörte Jeremy seinen Vater brüllen. Sarah! Bring ihn raus! Schick ihn fort! Ich kann seinen Anblick nicht ertragen! Ich ertrag es nicht, wie er mich anstarrt! Jeremy spürte die Hände seiner Mutter auf seinen Schultern, wie sie ihn fortschob, zur Tür hinaus, ihn auf die Wange küsste. Geh, Jeremy, geh draußen spielen. Dein Vater braucht seine Ruhe. Es geht ihm nicht gut, verstehst du? Nein, Jeremy hatte es nicht verstanden und sich dennoch getrollt, weil er seine Mutter liebte und brav sein wollte. Zu den anderen Kindern war er gelaufen, die aus Erde, Steinen und Holzlatten eine Burg bauten, eine vorfreudige Sehnsucht, eine Hoffnung im Herzen.
Krüppelbalg! Krüppelbalg! Krüppelbalg!
Jeremy öffnete die Augen und horchte.
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