Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
abzählen.
Hast du Geld?, hatte seine unwirsche Frage auf dem Markt in Assuan gelautet, und als sie genickt hatte, hatte er wortlos die große Hand ausgestreckt. Grace hatte gezögert, ihm dann aber ihren Beutel gegeben, wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl. Viel hatte er sich daraus genommen, doch nicht alles, und ihr den Beutel wieder in die Finger gedrückt.
Können wir über Abu Klea nach Omdurman?, war Grace’ Frage an ihn wenig später gewesen. Verständnislos hatte er sie angestarrt. Wo? Ah, Abu Tuleyh. Was willst du dort?
Der Freund, den ich suche – er wird seit der Schlacht dort vermisst.
Abbas’ Miene hatte sich verfinstert. Was suchst du im Sudan – die Toten oder die Lebenden? Brüsk hatte er sich abgewandt und Grace keine Gelegenheit gegeben, etwas darauf zu sagen.
Seither kamen von ihm nur kurze, knappe Befehle an sie. Steig auf. Steig ab. Trink. Iss. Schlaf. Wach auf. Abbas bestimmte, wann ihr Schlaf endete und wann er begann und wann und wie viel sie trank und aß von dem brackig schmeckenden Wasser aus den Lederschläuchen und von den in Wasser eingeweichten hirseähnlichen Körnern und von den gummiartigen Brotfladen. Abbas verfügte, wann es Zeit war, haltzumachen und sich zu erleichtern oder das Nachtlager aufzuschlagen. Soweit Grace zurückdenken konnte, war sie einem Menschen noch nie derart ausgeliefert gewesen, schon gar nicht einem Fremden. Ich bin der Geist, der stets verneint. Grace hatte keine andere Wahl, als demütig den Kopf zu neigen und sich diesem Fremden namens Abbas zu überlassen, in dessen Hand ihr Leben für die Dauer der Reise lag. Abbas, der stets an ihrer Seite war und doch immer so fern, von dem sie nicht wusste, ob er Muslim war oder Christ oder irgendetwas anderes und wieso sein Schädel stets makellos kahl und sein Gesicht glatt rasiert war, ohne dass sie ihn je bei der Rasur sah.
Die Stille, die Leere der Wüste zermürbten Grace. Ihr Geist bäumte sich dagegen auf, schickte ihr Erinnerungsfetzen, an Surrey, an Shamley Green, an all die Menschen, die sie liebte. An Jeremy. Doch sie konnte nichts greifen, nichts festhalten. Die lebendige Erinnerung wurde zu einem toten Schemen, zu einer fixen Idee, die nur noch aus einem Namen bestand. Jeremy. Die Wüste begann sich durch ihren Verstand zu fressen. Wer bin ich? Wer bin ich?
Grace Constance Norbury gab es nicht mehr, es gab nur noch ein menschliches Wesen weiblichen Geschlechts, abgemagert und sonnenverbrannt und immer so, so durstig, das sich mit reiner Willenskraft im Sattel des Kamels hielt und tat, was Abbas ihr befahl.
»Halt an.«
Grace gehorchte. Die Luft kam ihr heute drückender vor als gestern; sie flirrte, war wie aufgeladen, und der Wind blieskräftiger. Abbas hatte die anderen Kamele ebenfalls zum Stehen gebracht. Unruhig waren sie, und Abbas lauschte in die Wüste hinaus.
»Steig ab. Schnell!«
Grace ließ das Kamel in die Knie gehen, wie sie es von Abbas gelernt hatte, und rutschte aus dem Sattel. Sie sah zu, wie Abbas selbst abstieg, die Kamele wieder aufstehen ließ und sie zusammentrieb, sie erneut zum Niederknien bewegte, zu einem halbkreisförmigen Wall gruppiert. Mit schnellen, geschickten Bewegungen begann Abbas die Wasserschläuche abzuladen und innerhalb des Walls aufeinanderzuschichten, nahm sein Gewehr ab und das Schwert und verstaute sie dazwischen, ehe er weitere Schläuche aufhäufte.
Angst schüttelte Grace, jähe, nackte Angst. »Abbas, was kann ich tun?« Als er nicht antwortete, rief sie erneut: »Abbas!«
»Verhüll dein Gesicht, so gut du kannst!« Grace tat mit zitternden Fingern wie geheißen. »Wickel das um dich!« Sie fing die Decke aus dickem Baumwollstoff mit einer Bordüre aus geometrischen Mustern auf, die er ihr zuwarf, und legte sie sich um die Schultern; eine andere Decke breitete er über die Wasserschläuche und zurrte sie mit Riemen fest. Grob packte er Grace und zerrte sie zu den Kamelen, stieß sie zu Boden und kniete sich neben sie, zog ihr den Schal tiefer ins Gesicht und wickelte die Decke so fest um sie, dass sie darunter zu ersticken glaubte, und auch Abbas vermummte sich, mit Tuch und Jacke und mit einer Decke.
»Abbas ...«, setzte sie an, brach jedoch sogleich ab. Jetzt hörte sie es: Über dem Schnauben, dem fast menschenähnlichen Stöhnen der Kamele fegte ein Dröhnen daher, ein Fauchen und ein wütendes Zischen. Sie sah noch die ersten Nebelbänke aus Staub daherwabern, die ersten Sandfontänen daherfegen, bevor Abbas ihr die Decke
Weitere Kostenlose Bücher