Jenseits des Nils: Roman (German Edition)
über den Kopf zog, Grace am Scheitel herunterdrückte und ihren Oberkörper wie ein Paket unter seine Jacke stopfte, sie an sich presste. Ich kann nicht atmen. Ich bekomme keine Luft.
Sandkörner prasselten auf sie nieder, Millionen und Abermillionen, drangen in alle Ritzen, und durch alle Poren zog ein beißender Staub und fraß sich in die Haut. Grace brach in Schweiß aus, der noch verdunstete, ehe er ihre Kleidung anfeuchten konnte, unter dem Gluthauch, der sie bei lebendigem Leib versengte.
Ich. Kann. Nicht. Atmen. Liebergottbittehilf! Ich will nicht sterben. Ich will nicht sterben.
Ihr war zum Weinen zumute, doch keine einzige Träne bildete sich hinter ihren zusammengekniffenen Lidern. In ihrer Schläfe pochte es. Ein ungeheurer Druck baute sich dort auf, breitete sich weiter aus und drohte im nächsten Moment ihren Schädel zu sprengen. Ich will nicht sterben.
Grace hatte kein Gefühl für die Zeit. Waren es Minuten oder Stunden, die vergingen, in dieser Qual, dieser Angst, die kein Ende nehmen wollte? Ich kann nicht atmen. Worte stiegen aus den Tiefen ihres umnebelten Bewusstseins auf. Ich flehe ... Ich flehe um dein Mitleid, Du, einzige Liebe ... Die Blumen ... die Blumen des Bösen ... Jeremy ... Worte, in die Grace sich wie mit Klauen krallte. Ich flehe um dein Mitleid, Du, einzige Liebe. Vom Grund der finstern Schlucht, auf den mein Herz gestürzt ... Ich flehe um dein Mitleid, Du, einzige Liebe ... Vom Grund der finstern ... Ich flehe ... Ich flehe ...
Der Sandsturm ließ kaum merklich nach, versiegte dann mit einem Schlag, und das Brausen des Windes flackerte in die Ferne hinaus. Abbas ließ sie los, riss ihr die Decke herunter, zog ihr das Tuch vom Kopf, und Grace schnappte keuchend nach Luft und hustete. Luft. Luft. Abbas’ Hände fegten über ihr Gesicht; überall kratzten und bissen Sand und Staub, in den Augen, der Nase, dem Mund, dem Hals. Luft. Grace rang nach Atem und hustete, hustete, bis sie glaubte, ihre Eingeweide auszuwürgen. Luft.
»Trink.« Gierig stürzte sie das Wasser aus dem Schlauch hinunter, den Abbas ihr an den Mund hielt, schluckte, atmete, schluckte, atmete. Erschöpft saß sie da, klopfte sich den Sand ab,so gut es ging, während Abbas aufstand, sich schüttelte und nach den Kamelen sah.
»Als Allah den Sudan schuf«, brummte er, »hat er gelacht. Das sagt man dort, wo ich herkomme.«
»Und wo ist das?«, schnaufte Grace.
Abbas’ wuchtiger Schädel ruckte seitwärts, irgendwo in Richtung Westen. »Ich bin halb Dinka, halb Araber.« Er warf Grace einen Seitenblick zu. »Und du bist entweder eine große Närrin oder hast das Herz eines Kriegers.«
Grace zuckte nur mit den Schultern. Es verwirrte sie, dass der Sandsturm ihm offenbar die bisher so träge Zunge gelöst hatte und dass er nun aussprach, was sie selbst beschäftigte. So wie es sie verwirrte, dass die Todesangst ihr ein Stück ihres alten Selbst zurückgegeben hatte.
Abbas’ tief liegende Augen musterten Grace. »Muss ein sehr guter Freund sein, den du finden willst.«
Grace blinzelte in die Wüste hinaus. »Es ist der Mann, den ich liebe.« Sie rappelte sich auf und wollte Abbas einen der Wasserschläuche abnehmen, doch er schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Arbeit für eine Frau. – Was machst du, wenn du ihn nicht findest?«
Grace senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Daran ... daran will ich gar nicht denken.«
»Was ist falsch an dem in Cairo?«
Grace lächelte. »Nichts. Er ist nur nicht der Richtige.«
Abbas zurrte den nächsten Schlauch auf einem der Lastkamele fest. »Das sieht er wohl anders.«
»Ich weiß«, erwiderte Grace bedrückt. Bei dem Gedanken an Leonard fühlte sie sich elend.
Röhrend erhob sich das Kamel, und Abbas ließ auch das zweite, wieder beladene aufstehen, drehte sich dann zu Grace um. »Es gibt eine Art Liebe«, sagte er mit ausdrucksloser Miene, »die so groß ist, dass sie den Wahnsinn bringt und ins Verderben führt.«
»Sagt man das auch hier im Sudan?«
Abbas grinste kurz, zeigte zwei Reihen ebenmäßiger, grellweißer Zähne. »Sagt Abbas, der die Menschen kennt. – Wie ist dein Name?«
»Grace.«
»Steig auf, Miss Grace!«, bellte Abbas und schwang sich selbst in den Sattel.
44
Mit nachdenklicher Miene sah Stephen durch die Glastür des Salons in den winterlichen Garten hinaus. Nach seinem Schlaganfall Ende November hatte Dr. Grayson dem Colonel Bewegung verordnet, und so konnte man ihn jeden Tag draußen umherstapfen sehen, lag
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