Jerry Cotton - 2916 - Das Marlin-Projekt
Norden von Long Island unterwegs. Unser Ziel war der beschauliche Küstenort Kings Point. Dort betrieb Dr. Shaw ein Yoga-Zentrum – wobei ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, was genau das sein sollte.
Wir hatten uns telefonisch angemeldet, und so erwartete uns die Eigentümerin dieses seltsamen Treffpunkts bereits.
Ich schätzte Dr. Shaw auf Ende dreißig. Vielleicht war es naiv von mir gewesen, eine unscheinbare, mausgraue, wollsockige Wissenschaftlerin zu erwarten, die mit ihrem Trip nach Indien der tödlichen Langeweile des Labors entgehen wollte. Denn vor uns stand das genaue Gegenteil.
Die Frau war braungebrannt, ihr naturblondes Haar war zu einem langen Zopf zusammengebunden. Sie trug ein hautenges, gelbgrünes T-Shirt zu einer eng anliegenden, kurzen grünen Sporthose. Ihr Körperbau war athletisch. Sie sah uns aus freundlichen, lebhaften, hellgrünen Augen mit festem Blick an. Diese Frau sprühte vor Lebensfreude, Vitalität, Kraft und Energie.
Phils Gesicht und sein schiefes Grinsen verrieten seine Gedanken: So sieht also eine mehrfach preisgekrönte und zweifach promovierte Karriere-Physikerin und Informatikerin aus, dachte er belustigt. Vielleicht musste er auch einfach nur an ihren Tantra-Bestseller denken.
»Die Herren vom FBI, nehme ich an«, sagte sie mit kräftiger Stimme, streckte uns lächelnd die Hand entgegen und geleitete uns in das riesige Haus. Sie führte uns in eine Art Empfangsraum mit kleiner Bar.
Ich hätte sie zu gerne gefragt, wie es um ihre Finanzen bestellt war und wieso man mit einem Yoga-Zentrum offenbar Millionen scheffeln konnte. Aber das war jetzt nicht das Thema. Wir mussten wissen, mit was sich Dr. Everett Shaw und sein Institut befasst hatten.
Die Lady war schon vormittags von unseren Kollegen über den Tod ihres Ex-Mannes informiert worden, sodass wir um diese schreckliche Aufgabe herumkamen.
»Wann ist es passiert? Und aus welchem Grund?«, wollte sie wissen, doch ich schüttelte den Kopf. »Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Arbeit. Es passierte heute Morgen in aller Herrgottsfrühe.«
»Was den Grund angeht«, schaltete sich Phil ein, »hatten wir gehofft, dass Sie uns vielleicht weiterhelfen können. Sagt Ihnen das Marlin-Projekt etwas? Oder ganz generell gefragt: Womit beschäftigt sich das BMRI?«
Bellinda Shaw drehte sich um, winkte einen jungen Mann von der Bar herüber und bestellte drei stille Mineralwasser. Dann wandte sie sich uns wieder zu.
»Tja, ich bin schon eine ganze Weile raus aus der Firma. Und seit der Trennung hatte ich nur wenig Kontakt mit Everett. Wenn wir uns gesprochen haben, dann ging es meist nicht um das Institut«, erklärte sie.
»Ist Ihnen das Marlin-Projekt denn ein Begriff?«, fragte Phil nach.
Der muskulöse Bursche von der Bar kam mit einem Tablett zu uns und stellte riesige Mineralwassergläser vor uns auf den Tisch.
»Ich fange mal so an, Agents: Everett und ich hatten uns schon früh auf die Entwicklung von Unterwasserlaufkörpern spezialisiert.«
»Meinen Sie so etwas wie U-Boote?«, hakte ich nach.
»Exakt! U-Boote, vor allem Mini-U-Boote. Das war unser erstes gemeinsames Forschungsprojekt. Wir ergänzten uns mit unseren Fähigkeiten ziemlich gut.«
»Wo haben Sie beide sich denn kennengelernt?«, fragte Phil.
»An der Universität. Dort schlossen wir beide als Beste unseres Jahrgangs ab und wurden sofort von Uncle Sam angeworben.«
»Sie gingen zur Army?«, fragte ich bewusst an unserem Kenntnisstand vorbei und erntete ein sympathisches, mädchenhaftes Lachen.
»Nein, zur Navy. Wir bekamen noch an der Uni Besuch von einem Mann, der für das Office of Naval Research arbeitete. Genauer: Er war Leiter einer Abteilung des NRL.«
»Die Abkürzung habe ich schon mal gehört«, murmelte ich, während ich krampfhaft überlegte, wofür sie stand.
»US Naval Research Laboratory«, kam mir Phil zu Hilfe.
»Exakt«, sagte Bellinda Shaw und trank einen großen Schluck Wasser. »Wir wurden dem Team unseres Entdeckers, also Dr. Peter Lewis, zugeteilt, das sich wissenschaftlich mit einer ziemlich verrückten neuen Technik befasste. Haben Sie schon mal was von Unterwasser-Raketen gehört?«
Phil lachte verächtlich auf. »Meinen Sie etwa Torpedos? Mit Verlaub, Dr. Shaw, aber das nennen Sie doch nicht wirklich eine verrückte neue Technik, oder?«
»Nein, Agent Decker, ich spreche nicht von stinknormalen Torpedos. Ich spreche von Superkavitations-Torpedos, die mit einer Geschwindigkeit von mehreren Hundert Meilen
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