Jerusalem: Die Biographie (German Edition)
Mischung aus religiösen Juden und opportunistischen Banditen, die den Niedergang des Kaisers Nero und das nach seinem Selbstmord ausbrechende Chaos genutzt hatten, um die Römer zu vertreiben und einen unabhängigen jüdischen Staat rund um den Tempel auszurufen. Aber sofort hatte sich die jüdische Revolution in blutigen Säuberungsaktionen und Bandenkriegen zerfleischt.
Nach Nero hatten sich drei römische Kaiser in rascher, chaotischer Folge abgelöst. Als Vespasian aus diesen Wirren als Kaiser hervorging und Titus aussandte, um Jerusalem zu erobern, war die Stadt unter drei Kriegsherren aufgeteilt, die sich gegenseitig bekämpften. Die jüdischen Warlords führten zunächst heftige Gefechte in den Höfen des Tempels, die von Blut überströmt waren, und plünderten anschließend die Stadt. Ihre Trupps durchforsteten die reicheren Viertel, plünderten Häuser, töteten »zur Kurzweil« die Männer und missbrauchten die Frauen. Berauscht von ihrer Macht, ihrem Jagdfieber und vermutlich dem erbeuteten Wein, schwelgten sie in »weibischem Gebaren, indem sie sich das Haar frisierten, Weiberkleider anzogen, sich mit wohlriechendem Öl salbten und sich zur Zierde die Augen bemalten«. Diese provinziellen Mörder stolzierten in »fein gefärbten Oberkleidern« herum und töteten jeden, der ihnen über den Weg lief. In ihrer einfallsreichen Verdorbenheit verfielen sie auf »widernatürliche Lüste« und machten Jerusalem mit ihren »Werken der Unzucht« zu einem »Bordell« und zur Folterkammer, und dennoch blieb die Stadt ein Heiligtum. [3]
Der Tempel setzte seinen Betrieb irgendwie fort. Im April, kurz bevor die Römer die Stadt eingeschlossen hatten, waren noch Pilger zum Passahfest gekommen. Gewöhnlich lag die Einwohnerzahl Jerusalems im hohen Zehntausenderbereich, aber da nun Pilger und viele Kriegsflüchtlinge durch die römische Belagerung in der Falle saßen, befanden sich Hunderttausende in der Stadt. Erst als Titus die Stadt einkesselte, stellten die Führer der Aufständischen ihre internen Auseinandersetzungen ein, um sich mit ihren 21 000 Kämpfern gemeinsam den Römern entgegenzustellen.
Jerusalem, das Titus zum ersten Mal vom Berg Skopus – benannt nach dem griechischen skopeo , »Aussicht« – sah, war, laut Plinius, die bei weitem berühmteste Stadt des Ostens, eine opulente, blühende Metropole, rund um einen der größten Tempel der antiken Welt erbaut, der ein erlesenes Kunstwerk von immensen Ausmaßen war. Der Ort war bereits seit tausend Jahren besiedelt, aber diese mit vielen Mauern und Türmen umgebene Stadt, die sich über zwei Berge inmitten des unfruchtbaren Berglands Judäas erstreckte, war nie so bevölkert und imposant wie im ersten Jahrhundert n.Chr.: Ähnlich groß und großartig sollte Jerusalem erst wieder im 20. Jahrhundert werden. Das war die Leistung Herodes’ des Großen, jenes brillanten, psychotischen Königs von Judäa, dessen Paläste und Burgen so monumental und luxuriös ausgestattet waren, dass der jüdische Geschichtsschreiber Josephus es für unmöglich hielt, diesen Prunk »in allen seinen Einzelheiten gebührend zu schildern«.
Der Tempel stellte in seinem numinosen Glanz alles andere in den Schatten. »Auf allen Seiten mit goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang in hellstem Feuerglanz und blendete das Auge.« Wenn Fremde – wie Titus und seine Legionäre – diesen Tempel zum ersten Mal sahen, wirkte er »wie ein schneebedeckter Hügel«. Fromme Juden wussten, dass sich im Zentrum der Höfe in dieser Art Stadt in der Stadt auf dem Berg Moriah eine kleine Kammer von höchster Heiligkeit befand, die praktisch nichts enthielt. Dieser Raum war das Zentrum jüdischer Heiligkeit: das Allerheiligste, der Wohnort Gottes.
Herodes’ Tempel war ein Heiligtum, aber auch eine nahezu uneinnehmbare Festung innerhalb der befestigten Stadt. Ermutigt durch die römische Schwäche im Vierkaiserjahr, Jerusalems Steilhänge, Befestigungen und den labyrinthartigen Tempel hatten die Juden sich Titus mit maßlosem Selbstvertrauen entgegengestellt. Schließlich trotzten sie Rom bereits seit fünf Jahren. Aber Titus besaß die Autorität, den Ehrgeiz, die Mittel und das nötige Talent für diese Aufgabe. Mit systematischer Effizienz und überwältigender Durchschlagskraft machte er sich daran, Jerusalem zu bezwingen. In den Tunneln an der Westmauer des Tempels fand man Ballistasteine, die vermutlich von Titus abgeschossen wurden und von der Intensität der römischen
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