Jessica
ausführlicherer Brief von Michael eintraf. Die Dinge liefen nicht gut, hatte er geschrieben. Victoria durchlebe eine schwierige Schwangerschaft, und seine Schulden wüchsen stetig. Michael hatte einen Anwalt namens Calloway im Verdacht, die Bank in Choteau dazu bewegen zu wollen, dass sie auf der Rückzahlung eines Kredites bestand, den er dort erhalten hatte.
An diesem Tag hatte Jessica sich ohne Bedauern aus St. Louis fortbegeben und einen Teil ihres von Mrs. Covington geerbten Geldes für die Reise nach Westen benutzt. Der Rest ihres Geldes - besonders viel war es nicht mehr - lag sicher auf einer Bank in Missouri.
Jessica zwang sich mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. Die Ungerechtigkeit, die Demütigung - das war einfach zu viel so kurz nach Michaels Tod. Sie würde später darüber nachdenken oder es noch besser für alle Zeit verdrängen.
Als Jessica durch das Schneetreiben auf das einfache Grab mit dem schlichten Holzkreuz blickte, musste sie die Hand vor den Mund pressen, um ein erneutes Aufschluchzen zu unterdrücken - und ihre Wut. Um sie herum schwankte und zerfiel ihre Welt, und am Randes ihres Bewusstseins hörte sie, wie Alma Stewart im Nebenzimmer mit ihrer sanften Stimme ein Schlaflied sang, während die beiden Babys leise weinten, die nur wenigen Wochen nach ihrer Geburt zu Waisen geworden waren.
Wagen und Kutschen fuhren knirschend am Haus vorbei über die vereisten Straßen, und Frauen und Männer riefen einander freundliche Worte zu. Doch unter Jessicas Füßen, in den Räumen der aufstrebenden Zeitung Springwaters - der Springwater Gazette - stand die Druckerpresse still.
» J essie?« Almas sanfte Stimme bewog Jessica schließlich dazu, den Blick von der letzten Ruhestätte ihres Bruders abzuwenden. Niemand außer ihrem Bruder hatte sie je Jessie genannt, aber sie sagte nichts. Auch Alma trauerte, nicht nur um Michael, sondern auch um ihre Nichte Victoria. Geschwächt durch die Geburt hatte Victoria ein anschließendes Fieber nicht überlebt und war nur wenige Wochen vor Michael gestorben, der sich bis zuletzt gegen das Fieber gewehrt hatte.
Jessica wandte sich um und betrachtete die zerbrechlich wirkende Frau, die gerade aus einer der beiden Kammern trat, die sich Schlafzimmer nannten. »Ja?«
Alma war nach Springwater gekommen, um Victoria bei der Geburt zur Seite zu stehen, obwohl ihr Mann ein paar Meilen entfernt auf seiner Ranch auf sie wartete. Alma war freun dlich und großherzig, aber ver ständlicherweise ungeduldig, zu ihrem Mann zurückzukehren.
»Er hat es versucht«, sagte Alma ruhig. »Er hat sein Bestes getan, um durchzuhalten, das hat Michael wirklich versucht. Aber als Victoria starb, war es, als hätte man einen Teil von ihm weggenommen. Er hat danach wie ein Verrückter gearbeitet, Tag und Nach Druckfahnen geprüft und dieses alte Ding zum Drucken auseinander genommen und wieder zusammengesetzt. Das hat ihn fertig gemacht, Jessica. Das hat ihn einfach verbraucht.«
Alma hielt inne, ihr Kinn zitterte, und sie tupfte sich mit einem spitzengesäumten Taschentuch die Augen trocken. »Das verstehst du doch, oder? Ich meine dass ich die Babys nicht nehmen kann? Ich bin eine alte Frau und weit über das Alter hinaus, in dem man Kinder großziehen kann. Offen gesagt fällt es mir schon schwer, mich jeden Tag um meine eigene Dinge zu kümmern. Ich habe meinen guten und geduldigen Mann jetzt schon viel zu lange a ll eine gelassen.«
Jessica hatte sich noch nie groß über Kinder im Allgemeinen und ihre Nichten im Besonderen Gedanken gemacht, und die Nachricht vom Tod Michaels und seiner Frau hatte sie erst erfahren, als sie aus der Kutsche gestiegen war. Jetzt überkam sie plötzlich der wilde Drang, die Babys zu beschützen. Sie waren so klein und schutzbedürftig — und so schön! Ob das das Gefühl war, das eine junge Mutter empfand, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal sah, diese plötzliche, überwältigende Liebe?
In der Schwärze ihrer Trauer erschienen Jessica die Zwillinge wie ein Lichtstrahl, der sie tröstete und aufrecht hielt. Auch die Covington-Kinder Susan und Klein Freddy hatte sie gemocht und von ganzem Herzen geliebt, trotz der Verachtung, die sie für ihren Vater empfand. Aber die Gefühle, die sie jetzt für die Zwillinge empfand, gingen noch viel tiefer. Diese Kinder waren Blut von ihrem Blut, Fleisch von ihrem Fleisch, Seele von ihrer Seele. Das war Familie.
»Es ist gut, Alma«, sagte Jessica so sanft, wie sie konnte. Sie war nach Westen gekommen,
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