Jessica
weil Michael sie endlich doch hatte sehen wollen und weil sie keinen Ort hatte, an den sie sonst hätte gehen können, nachdem ihr Ruf gründlich ruiniert worden war. Jessica war entschlossen, für sich und die Babys das Beste aus dem Leben zu machen. »Ich werde für sie sorgen.«
Sichtlich erleichtert griff Alma nach der Lehne eines Stuhls und ließ sich zittrig in die zerschlissenen Polster sinken. Einen Moment empfand Jessica tiefes Mitgefühl. Sie hatte zwar selber einen geliebten Bruder verloren, und das völlig unerwartet, aber Alma hatte Victoria, die Tochter ihres lange verstorbenen, angebeteten Bruders Frank, vergöttert. Das wusste Jessica aus ihren Briefen von Michael. Alma und ihr Mann hatten niemals eigene Kinder gehabt.
Mit tränenfeuchten Augen sah Alma die junge Frau an. »Du würdest die armen kleinen Dinger doch nicht in ein Waisenhaus stecken, nicht wahr?«, fragte sie ängstlich. »Es gibt hier Leute, die sie sicher bei sich aufnehmen würden. Gute Leute. Gage Calloway hat mir erst gestern erzählt...«
Gage Calloway. An diesen Namen erinnerte Jessica sich nur zu gut aus den Briefen ihres Bruders. Mr. Calloway hatte Bürgermeister von Springwater werden sollen, und Michael hatte eine Kampagne gegen ihn gestartet. Mr. Calloway hatte daraufhin aus Rache seine Macht und seinen Reichtum dazu genutzt, ihren Bruder zu zerstören, wenn auch heimlich.
J
essica hob zitternd ihre Hand, um Alma Einhalt zu b ieten. Bei anderer Gelegenheit hätte sie wahrscheinlich höchst verärgert auf die Unterstellung reagiert, sie könnte die Kinder in ein Waisenhaus geben — die Kinder ihres Bruders —, aber sie wusste, dass Alma zutiefst litt und bemühte sich deshalb tapfer, ihr Temperament im Zaum zu halten. Sie taten beide, was sie unter diesen Umständen konnten, und ein Austausch bitterer Worte war wohl kaum dazu angetan, ihre Situation zu erleichtern.
Jessica straffte die Schultern und strich das schwarze Satinkleid glatt, was sie jedes Mal tat, wenn sie sich herausgefordert fühlte. »Ich kann dir versichern, dass ich die Kinder mit genauso viel Liebe und Sorgfalt aufziehen werde, als wenn es meine eigenen wären.«
Sie schwieg und biss sich resigniert auf die Unterlippe. Als sie weitersprach, lag ein flehender Ton in ihrer Stimme. »Wie konntest du auch nur einen Moment lang denken, ich würde sie weggeben? Diese beiden kleinen Mädchen sind das Einzige, was mir von meiner Familie geblieben ist.«
Jessica zweifelte nicht daran, dass Michael Alma erzählt hatte, wie ihre Eltern bei einem Kutschenunfall um Lebens gekommen waren, sodass ihre beiden kleinen Kinder von einem unverheirateten Onkel aufgezogen worden waren, der wenig Interesse an der Sache gehabt hatte.
Alma wagte es nicht, Jessica in die Augen zu sehen. Und als auf dem Pfad, d er zur Haustür führte, Schritte zu hören waren, schien sie sichtlich erleichtert zu sein. Eine Antwort war ihr dadurch erspart geblieben, und das war vielleicht gut so, dachte Jessica. Michael hatte ihr seine Schwester bestimmt als alte Jungfer beschrieben, die recht distanziert war und an Kindern kein Interesse hatte. Die Covington-Kinder waren ja viel älter und nicht ihre eigenen.
In der Tat fragte sich Jessica, ob sie sich wohl je an Springwater gewöhnen würde, wo es nur einen Laden, eine Kirche und eine Hand voll Häuser gab. Ohne Michael hatte der Ort nichts zu bieten, was sie als reizvoll empfunden hätte.
Jessica prüfte, ob ihr blondes Haar noch an seinem Platz war und nicht wild über den Rücken fiel; und dann eilte sie durch das Zimmer, um die Tür zu öffnen. Ihr Besucher, ein großer, dunkelhaariger Mann mit auffallend grünen Augen, hatte gerade die Faust gehoben, um an die Tür zu klopfen. Ein eiskalter Wind fegte hinter ihm herein und b rachte Jessica zum Zittern; und doch spürte sie gleichzeitig, wie ihr Körper bei seinem Anblick von einer merkwürdigen Wärme durchflutet wurde - als ob dieser Mann über magische Kräfte verfügte.
Jessica, die vor Fremden immer Scheu empfand, dies aber niemals zeigte, richtete sich hoch auf und versuchte nicht einmal zu lächeln. Die Wirkung, die der Mann auf sie hatte, ermahnte sie erst recht zur Vorsicht.
»Guten Tag«, grüßte sie höflich, aber ohne Wärme, und verlieh ihren Worten einen fragenden Unterton. Genauso gut hätte sie sagen können: »Sagen Sie, was Sie wollen, und dann gehen Sie wieder.«
»Miss Barnes?« Seine Zähne waren auffallend weiß, und er roch nach frischer Luft, Schnee und
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