Jessica
Pinien, die am Fuße der Berge wuchsen.
Jessica bemühte sich um ein freundliches Gesicht. Sie war hier in einem entlegenen Ort, und da war es vielleicht üblich, dass die Einheimischen Besuchern einen Höflichkeitsbesuch abstatteten.
»Ja?«, fragte sie, trat aber weder zurück noch bat sie den Besucher ins Haus. Dies war schließlich eine Traueradresse, wo man ein Recht auf Zurückgezogenheit hatte.
Der Fremde nahm den Hut ab - ein ziemlich auffälliges Modell mit Silbertroddeln und breiter Krempe - und hielt ihn in der Hand. Seine dicken Haare schimmerten wie Seide, stellte Jessica fest, und überrascht merkte sie, dass sie den Impuls unterdrücken musste, die Hand auszustrecken, um ihm eine Locke aus der Stirn zu streichen. Was für eine seltsame Reaktion, dachte sie, und sie war selber die Letzte, die das hätte erklären können.
»Mein Name ist Gage Calloway«, erklärte der Fremde, nachdem er sich einmal geräuspert hatte. Der angenehme Klang seiner Stimme kam selbst bei diesem kurzen Satz zur Geltung, aber die Aussage traf Jessica mit der Wucht einer entgleisenden Lokomotive. Das war also der Feind ihres Bruders! Ihr Feind, jetzt, wo Michael nicht mehr lebte.
»Ich bin der Bürgermeister von Springwater.« Er schwieg und sah schmerzlich berührt aus. »Es tut uns schrecklich leid um Ihren Bruder, Miss Barnes. Den Leuten in der Stadt, meine ich. Es muss ein großer Schock für Sie gewesen sein, aus der Kutsche zu steigen und als Erstes zu erfahren, dass Ihre Angehörigen gestorben sind ...«
Bei der Erinnerung an jenen Augenblick wurde Jessica die Kehle eng; der Schmerz war noch zu frisch, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Kalte Wut stieg in ihr auf, vermischt mit Schuldgefühlen, denn ihr wurde bewusst, dass sie sich instinktiv zu dem Mann hingezogen fühlte - trotz allem, was er getan hatte. Wenn der Besucher jemand anderes gewesen wäre, hätte sie ihn hereingebeten, ihm vielleicht Tee angeboten und ihn an den Kamin gesetzt. Aber so, wie die Dinge lagen, brachte sie das nicht über sich.
»Sie werden verzeihen, Mr. Calloway...«, begann sie eine höfliche Ansprache, um ihn wegzuschicken; aber ehe sie weitersprechen konnte, wurde sie von Alma unterbrochen.
»Nein, wirklich, Gage, wie nett von Ihnen, bei uns vorbeizukommen!«, rief die ältere Frau aus der Küche, und Jessica hätte schwören mögen, dass ihre Stimme kokett kl ang. »Kommen Sie doch aus dem kalten Wind und treten Sie ein. Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt, und Sie sehen aus, als wenn Sie das jetzt gut gebrauchen könnten.«
Gage Calloway begegnete kurz Jessicas unnachgiebigem Blick und nahm dann Almas Einladung mit einem Nicken an. Das Lächeln, das er Alma schenkte, war verwirrend. »Gegen ein paar Minuten am Feuer hätte ich nichts einzuwenden«, gab er zu. »Sieht ganz so aus, als würde es ein harter Winter werden.«
Jessica blieb keine andere Wahl, als beiseite zu treten. Oder hätte sie die Arme ausbreiten sollen, um ihm den Weg zu versperren? Wenn sie sich ansah, wie groß Mr. Calloway war, wäre dieser Versuch wahrscheinlich ohnehin umsonst gewesen; er war fast zwei Meter groß, und seine Schultern füllten den Rahmen der Tür vollständig aus. »Ja«, sagte Jessica ein wenig trotzig, »kommen Sie doc h herein.«
Ein Lächeln umspielte Calloways gut geschnittenen Mund, als er eintrat. Seine Augen drückten Bedauern aus, aber normalerweise blitzten sie sicher voller Schalk, Lachen und Witz. Jessica wunderte sich wieder, wie sie auf solche Gedanken kam.
»Niemand macht einen besseren Kaffee als Sie, Alma«, lobte Calloway, sah aber dabei Jessica an. »Verraten Sie das nur nicht Junebug McCaffrey! Sie bildete sich viel auf ihre Kochkünste ein.«
Alma gab ein Geräusch von sich, das halb Lachen, halb Zwitschern war, und Jessica fragte sich, ob sie überhaupt wusste, dass dieser Mann Michaels Feind gewesen war. Es war ganz offensichtlich, wie sehr sie Gage Calloways Gesellschaft genoss, selbst in der Zeit der Trauer. Wahrscheinlich, sagte sich Jessica nüchtern, ging das sehr vielen Frauen so, denn sie konnte nicht abstreiten, dass er ein sehr attraktiver Mann war, ob Schuft oder nicht. Sie dagegen hatte einen guten Grund, ihn zu hassen.
Sein Auftreten erinnerte sie an ihren alten Widersacher Frederick Covington. Auch er war sehr attraktiv gewesen und hatte - genau wie Calloway - Geld und Macht besessen. Aber er war ein Teufel gewesen, und wenn es stimmte, was Michael ihr in seinen Briefen über Calloway geschrieben
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