Jesus von Nazaret
andere auch hatten: Geldnöte, Schulden, berufliche Probleme, Kälte und Frost im schlecht geheizten Haus, ein Prozess gegen einen Betrüger. Aber je länger Hitlers Herrschaft dauert, desto stärker treten die politischen Probleme in den Vordergrund, werden Klemperers private Alltagssorgen zunehmend von der Judenfeindlichkeit der Regierung dominiert, die sich auch gegen konvertierte Juden richtet.
Kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler schreibt Klemperer: »Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse.«
Wenige Wochen später, im März, heiÃt es: »Vollkommene Revolution und Parteidiktatur. Und alle Gegenkräfte wie vom Erdboden verschwunden.« Bang fragt er: »Wie lange werde ich noch im Amt sein?« Wenig später fügt er hinzu: »Noch zittert man nicht um sein Leben â aber um Brot und Freiheit.« Und immer wieder das Gefühl: »Niemand atmet mehr frei, kein freies Wort, weder gedruckt noch gesprochen. (â¦) Und niemand rührt sich, alles zittert, verkriecht sich.«
Er hat recht. Wenn auch nicht ganz.
Rund 200 Kilometer nördlich von Klemperers Wohnung spricht schon zwei Tage nach Hitlers Ernennung zum Kanzler ein junger Theologe Klartext. Dietrich Bonhoeffer markiert in Berlin in einem Rundfunkbeitrag die Grenzen, die dem Amt des »Führers« gesetzt sind. Zweieinhalb Monate später, Hitler hatte sich soeben mithilfe des »Arierparagrafen« die Möglichkeit verschafft,jüdische Beamte aus dem Staatsdienst zu entlassen, schreibt Bonhoeffer in einem Aufsatz, wo jetzt der Platz der Kirche zu sein habe: an der Seite der Juden. Und diesem Standpunkt bleibt Bonhoeffer treu, mit allen Konsequenzen, bis zu seiner Ermordung kurz vor Kriegsende.
Dort, in Berlin, kreuzt sich Bonhoeffers Weg mit dem eines anderen Theologen mit einer ganz anderen Herkunft, mit Martin Niemöller. Er gehört zu jenen, die als Nationalsozialisten begonnen, den Führerstaat begrüÃt, Juden zur Zurückhaltung ermahnt haben â und dann doch Widerstandskämpfer geworden sind. Niemöller war ein deutsch-nationaler U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, danach Kommandeur eines Freikorps, das die Weimarer Demokratie bekämpfte, wurde schlieÃlich Landwirt, später Pfarrer und geriet als solcher zunächst nur deshalb in Widerspruch zu den Nazis, weil er die Vermischung von politischen Aussagen mit dem christlichen Glaubensbekenntnis ablehnte.
Einmal zum Widerspruch und eigenem Nachdenken herausgefordert, entwickelte sich der Nationalkonservative zum Kirchenkämpfer, Oppositionellen und Widerstandskämpfer, den die Nazis ins Konzentrationslager steckten. Er überlebte die Haft und den Krieg und wurde danach zu einem streitbaren, politisch weit links stehenden Kirchenmann, der sich bis zu seinem Lebensende immer wieder in die Tagespolitik einmischte und konservative Kreise gegen sich aufbrachte.
Auch Arvid Harnack war Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und hatte in Berlin einen bedeutenden Posten im Reichswirtschaftsministerium â den er und seine amerikanische Frau Mildred nutzten, um mit den Russen gegen das Hitler-Regime zu arbeiten. Schon 1933 hatte Mildred einen Diskussionszirkel aufgebaut, aus dem 1939 das Widerstandsnetz Rote Kapelle entstand. Mildred und Arvid Harnack überlebten ihren Kampf gegen Hitler nicht.
Einer, der damals regelmäÃig Kontakt hatte zu Mildred Harnack und der Roten Kapelle, war Robert Havemann, der selbst eine Widerstandsgruppe namens Europäische Union gegründet hatte. Auch er flog auf, wurde verhaftet, hat aber überlebt, nach dem Krieg am Aufbau der DDR mitgearbeitet in der Hoffnung, hier das bessere, freiere und friedlichere Deutschland entstehen zu lassen â und wurde, ähnlich wie Victor Klemperer, bitter enttäuscht. Auch er versprach sich viel vom ersten deutschen »Arbeiter- und Bauernstaat«.
Ungefähr zur selben Zeit, als Bonhoeffer seinen ersten öffentlichen Protest gegen Hitler artikuliert und Klemperer in Dresden verzweifelt auf Signale des Widerstands wartet, verlässt 310 Kilometer nordwestlich ein junger Sozialist seine Heimatstadt Lübeck, um nach Norwegen zu fliehen und von dort aus den Kampf gegen Hitler aufzunehmen, Willy Brandt heiÃt er. Er wird überleben und Kanzler eines anderen Deutschlands
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