Jesus von Nazaret
schreibe mit der letzten, die hat keine scharfe Zunge mehr. Ständig hängt sie am Pergament fest!«
Niemand darf Ina beim Schreiben stören. Märthe hat es allen Schwestern streng untersagt.
Ein falscher Buchstabe ist schlimm genug und ein falsches Wort ist eine ganze verdorbene Seite. Und wir haben niemand auÃer Ina, die in Deutsch und Latein schreiben und lesen kann. Also stört das Mädchen nicht bei der Arbeit! Das hat Märthe den Schwestern eingeschärft. Von Anfang an, seit Ina und ich hierher ins Schwesternhaus kamen.
Ich denke, die Meisterin hatte uns Zwillinge nach Mutters Tod überhaupt nur deswegen aufgenommen, weil Ina die Schreib- und Lesekunst beherrschte. Vater, der ein Amtmann des Grafen von Graisbach war, hatte es ihr beigebracht. Auch bei mir hatte er es versucht. Ich fand aber keine Freude am Buchstabenmalen. Dafür kann ich gut Federn zuschneiden. Und aus Schlehenholz Tinte machen. Auf beides versteht sich Ina nicht, dazu braucht sie meine Hände.
Mit untergeschlagenen Beinen sitze ich im Bettstroh und knabbere Möhren. Und warte darauf, dass Ina die Feder beiseitelegt.
Endlich verschlieÃt sie das Tintenhorn und wischt die Feder in dem Wergbausch aus Flachsabfall sauber, klettert von ihrem Sitz und kauert sich zu mir.
»Danke«, sagt sie und greift zu den Möhren. »Also, was ist mit deinen verdreckten Anziehsachen, da drüben in der Ecke?«
»Ich wasche sie morgen«, sage ich.
»AuÃerdem hast du meine Schuhe an!«, beschwert sich Ina. »Du nimmst dir einfach Sachen aus meiner Truhe. Was ist passiert?«
Eigentlich wollte ich meine gelehrte Schwester zuerst nach dem supplicium fragen, bevor ich das schwierige Wort vergessen habe. Doch jetzt erzähle ich ihr von dem tollwütigen Hund am Donauknie. Mit kurzen Worten, denn ich bin sterbensmüde nach diesem schlimmen Tag.
»So nass und schmutzig, wie ich war, konnte ich mich doch nicht bei dem Priester blicken lassen«, schlieÃe ich meinen Bericht. »Sonst wäre ich nie an deine Sachen gegangen!«
Ina hört sich meine Geschichte an, ohne mich zu unterbrechen, aber mit einem merkwürdigen Gesicht. Und zwischen ihren Brauen stehen zwei kleine Falten.
»Da hast du mehr Glück als Verstand gehabt, Schwesterchen«, sagt sie schlieÃlich. Mehr nicht.
Und ich dachte, Ina bekreuzigt sich, nimmt mich in den Arm, froh, dass diese böse Sache doch noch gut für mich ausgegangen ist.
»Und? Was hättest du an meiner Stelle gemacht?«, frage ich gereizt.
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