Jesuslatschen - Größe 42
titanverkleidetes
architektonisches Kunstwerk, allererster Sahne zu sehen. Dieses Kunstbauwerk
hat keine winkligen Kanten. Fließend fügen sich weit geschwungene Formen
zueinander und bilden ein beeindruckendes Ganzes. Über dem Eingang prangt in
übergroßen Lettern „RUSSIA!“. Meine Vermutung bestätigt sich beim Betreten der
Eingangshalle. Die derzeitige Ausstellung beinhaltet ausschließlich Werke
russischer Künstler verschiedener Zeitepochen.
Na prima. Die ganze Kindheit und Jugend
hindurch war diese Kunstrichtung ein wesentlicher Bestandteil und Inhalt der Lehrbücher
und des Schulunterrichts. Nun komme ich nach Spanien, voller Freude auf diese
Galerie und finde ausschließlich russische Kunst vor. Da mein Kunstverständnis
recht vielseitig ist und die Neugier namens „Guggenheim“ mich erfasst hat,
zahle ich an der Kasse, gebe den Rucksack ab und tauche ein in den russischen
Kunstkosmos. Es gibt Werke, an denen gehe ich etwas schneller vorbei. So zum
Beispiel diese großformatigen Revolutionszyklen mit jubelnden, Mützen in die
Luft werfenden Leninanhängern.
So richtig leninfündig werde ich an einer
künstlerischen Installation. Hier kann man von oben in eine kartonartige Umhausung hineinsehen. In dieser „Puppenstube“ liegt
Wladimir Ilitsch Uljanowsk ,
genannt Lenin, im Maßstab 1:4 im Bett und wälzt sich unruhig hin und her. Es
ist grotesk, diesen Jahrhundertmann in einem weißen Nachthemd anzutreffen, sich
von einer Seite auf die andere werfend. Sicher beschäftigen ihn folgende Worte:
„Ein
Gespenst geht um in Europa –
das
Gespenst des Kommunismus.“
Karl
Marx
Zu Gesicht bekomme ich erwartungsgemäß auch
die „Wolgatreidler“ von dem bekannten russischen Maler Ilja Repin .
So eindringlich haben die zehn erschöpften, scheinbar gottverlassenen Akteure
noch niemals auf mich gewirkt. Ein Blick in die angestrengten Gesichter der
Männer, welche mit letzter Kraft einen großen Wolgalastkahn durch die
Stromschnellen ziehen, spricht Bände. Ist das ein Zeichen? Eine Art
Vorgeschmack auf die mich in nächster Zeit ereilenden Strapazen.
Ein weiteres großformatiges Bild macht mich befangen.
Es werden tote Soldaten auf einem Feld dargestellt, deren Körper und Gesichter
den Ausdruck haben, als seien sie gerade im Kampf gefallen. Gleichzeitig hat
man aber auch den Eindruck, als liegen die Kämpfer in einem tiefen Schlaf. Aus
ihren Leibern und Schädeln sprießen junge Pflanzentriebe hervor. Die Gefallenen
sind der Nährboden für die neue Saat. Unwillkürlich stelle ich mir den Vater
meines Vaters vor. Er ist, in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges im
„Felde“ geblieben. Ich habe meinen Großvater nie kennen gelernt.
Seine vier Kinder sind von Stund ’
an Halbwaisen. Ob eine Lerche in seiner Nähe war, weiß nur der Wind.
„The Unknown Soldier “
Doors
Ganz wichtig zu erwähnen ist eine weitere
Installation. Man sieht eine kleine Kammer, eher noch einen Holzverschlag.
Typisch russisch, unordentlich, ärmlich ausgestattet, einer Zelle ähnlich. An
den Wänden kleben Plakate mit Losungen der Partei, es sieht zum Heulen trostlos
und verlassen aus. In der Mitte des Raumes hängt an vier Gummiseilen eine
metallene Sitzschale. Schaut man nun zur Decke der Zelle, sieht man ein
förmlich herausgefetztes Loch. Andeutungsweise zersplitterte Dachsparren und
herausgerissene Dachziegel, darüber einen dunklen weiten Himmel. Hier hat
jemand die Notbremse gezogen und ist dem tristen Leben entflohen. Hat sich
gewissermaßen aus dieser Gesellschaft hinaus katapultiert. Diese trostlosen
Anblicke verlassener, eingefallener Gebäude sollen mich den Weg über begleiten.
Meine Initialen „R. P.“ bezeichnen ein
Filmprojekt. Gezeigt wird der hoffentlich Nicht-Alltag in einer russischen
psychiatrischen Klinik. Gerade wird ein männlicher Patient mit Elektroden ganz
einfacher Art am Kopf geschockt. Ein grausamer Ausdruck der Allmacht.
Gleichzeitig aber ein Vergleich zu Lenins Bettgeschichten. Nach diesem Horror
folgt in Ausgangsnähe der Traum der Menschen. Scheinbar schwerelos, schwebt ein
sowjetischer Kosmonaut als lebensgroße Nachbildung über den Besuchern. Er trägt
einen original Raumanzug mit diesem typischen runden Helm, mittig geziert vom
Sowjetstern und den kyrillischen Lettern CCCP. Diese Helden haben mich die
ganze Schulzeit hinweg begleitet. Einmal ist so ein Offizier ordenklimpernd und winkend durch Merseburg gefahren worden.
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