Jetzt! - die Kunst des perfekten Timings
notwendigen zeitlichen Ablauf vorzustellen, um dort hinzugelangen.
Die Tatsache, dass unser Denken große Zeitspannen überspringt, indem es sämtliche Zwischenschritte auslässt, ist ein enormer Vorteil. Ohne diese Q-Kapazität könnten wir gar nicht überleben. Wir wären gelähmt – verlangsamt durch ein Gehirn, das eine Stunde brauchen würde, um über eine Tätigkeit nachzudenken, deren Ausführung eine Stunde erfordert. Daraus resultiert jedoch ein Kompetenzparadox. Das, was unser Gehirn gut leistet, ist zugleich mitverantwortlich dafür, dass wir bei Timingentscheidungen schlecht abschneiden. Unsere Fähigkeit, von einem Zeitpunkt zum anderen zu springen, macht es einfach, Abfolgen, Intervalle, Pausen und andere Zeitelemente zu übersehen, die wirklich wichtig sind. 2
Unser Gehirn hat noch eine weitere Eigenschaft, die es erschwert, die nötigen Informationen für gute Timingentscheidungen zu bekommen. Dieses Mal spreche ich nicht von etwas, was es mühelos leistet, sondern von etwas, was es nicht kann, nämlich die Muster zu erfassen und zu erforschen, die entstehen, wenn viele Aktionen und Ereignisse gleichzeitig stattfinden. Dieses Phänomen nenne ich die Copland-Beschränkung nach dem Komponisten Aaron Copland, der feststellte, dass es uns schwerfällt, in der Musik mehr als drei Melodien gleichzeitig wahrzunehmen. Wenn in einer Komposition vier oder fünf Stimmen zur gleichenZeit zu hören sind, verschmelzen sie zu einem Geräuschteppich. Das innere Organisationsmuster geht schlicht verloren. Das Gleiche passiert bei Ereignissen. In jedem Augenblick vollziehen sich Hunderttausende Ereignisse und Prozesse gleichzeitig. Die Muster, die sie bilden, können uns leicht entgehen. Um beispielsweise die Gefahr eines »perfekten Sturms« (»Perfekter Sturm« bezeichnet im Folgenden eine seltene Verkettung besonders verhängnisvoller Umstände (A. d. Ü.) vorherzusagen, müssten wir unzählige synchrone Prozesse, Abfolgen, Aktionen und Ereignisse überwachen und sinnvoll einordnen. Das ist nichts, was wir im Kopf leisten können. In gewisser Weise sind wir schlecht an unsere Umwelt angepasst. Wir sind serielle Lebewesen: Wenn wir sprechen, sagen wir ein Wort nach dem anderen; wenn wir gehen, setzen wir einen Fuß vor den anderen; wenn wir planen oder überlegen, denken wir darüber nach, was auf was folgt. Aber wir leben in einer Welt massenhafter Parallelereignisse. Folglich entgehen uns viele zukünftige Auswirkungen all jener Ereignisse, die gerade passieren, weil uns das periphere Sehen fehlt, sie zu erfassen und zu verstehen.
Diese beiden Merkmale, die Quantumkapazität des Gehirns und seine Copland-Beschränkung, bedeuten, dass wir leicht die Informationen übersehen, die für Timingentscheidungen notwendig sind. Es kann daher kaum überraschen, dass mathematische Modelle, die zeitverarmte Beschreibungen der Welt zugrunde legen, uns nicht sagen – und gar nicht sagen können –, wann Blasen entstehen, wann eine Liquiditätskrise oder die verheerenden Auswirkungen eines schweren Sturms drohen. Die Information ( T ), die wir brauchen, um solche Bedingungen vorherzusagen, ist in diesen Modellen schlichtweg nicht enthalten.
Das Gleiche gilt für Nachrichten, die wir hören oder lesen. Jede Meldung, die wir online lesen oder im Radio hören, ist unvollständig. Sie lässt Informationen über die Zeitmerkmale aus, die notwendig sind, um zu verstehen, warum Ereignisse eingetreten sind, als es der Fall war, und was wir für die Zukunft erwarten können. Diese Meldungen lassen Informationen, die wir brauchen, nicht etwa aus Platzmangel oder redaktionellen Fehlurteilen aus – und welches enorme Ausmaß diese Auslassungen haben, wird am Ende dieses Buches deutlich. Das Problemist vielmehr, dass alle zeitlichen Merkmale, die Einfluss auf das Timing von Ereignissen haben, weder dem Reporter, der die Meldung verfasst, noch dem Redakteur, der sie bearbeitet, oder dem Leser, der sie liest, in den Sinn kommen. Wir sprechen häufig von systemischen Risiken und davon, Einzelpunkte zu verbinden. Aber bevor wir die Punkte verbinden können, müssen wir sie erst einmal finden. Wie wir im Fall des tödlichen Unfalls bei den Olympischen Winterspielen 2010 gesehen haben, ist das nicht einfach. Die Lösung besteht daher nicht im Data-Mining, also darin, Millionen verstreuter Informationshäppchen zu sammeln und dann die Punkte zu verbinden. Ganz gleich, wie groß die Datenbasis oder wie ausgeklügelt die Suchalgorithmen
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