Im Palazzo sueßer Geheimnisse
1. KAPITEL
Die Maschine steuerte den Flughafen Marco Polo an, setzte mit quietschenden Reifen auf und rollte auf der Landebahn aus.
Voller Spannung schritt Lucy Weston die Gangway hinunter. Auch wenn sich immer noch Trauer in ihren goldbraunen Augen zeigte, überwog doch die Vorfreude, endlich die Stadt zu erleben, von der ihre Mutter immer so geschwärmt hatte.
„Nächstes Jahr …“, hatte sie zu ihr gesagt, „… machen wir gemeinsam Urlaub und reisen nach Italien. Du wirst Venedig lieben.“
Aber für ihre Mutter, die denselben Vornamen trug wie sie, hatte es kein ‚nächstes Jahr‘ gegeben … Lucy seufzte wehmütig und betrat das Rollfeld, wo sie gleich von einer brütenden Backofenhitze eingehüllt wurde. Zwar war es bereits später Nachmittag, aber die Sonne brannte so vom Himmel, dass Lucy froh war, ihre schweren Haare zu einem Knoten aufgesteckt zu haben. Auch der Asphalt war heiß und ließ ihre Fußsohlen in den Sandaletten glühen, während sie dem Strom der Passagiere folgte, die in die Ankunftshalle des Airports drängten.
„Es ist wirklich mörderisch warm!“ Die mollige Amerikanerin Dolly Cook, die während des Fluges seit London mit ihrem Mann neben Lucy gesessen hatte, war schweißgebadet. „Dabei habe ich Walt noch vor diesen Temperaturen hier gewarnt. Doch er wollte nicht hören.“
Lucy lächelte. Genauso munter hatte sie die Frau die gesamte Reise unterhalten. Inzwischen kannte sie jeden Ort, in dem das Paar auf seinem Europatrip Station machen wollte.
Allerdings war ihr Informationsbedarf in diesem Punkt damit auch gedeckt. Im Augenblick wollte sie nur so schnell wie möglich in ihr Hotel.
Zuvor jedoch musste sie an der Gepäckausgabe auf ihren Trolley warten. Nachdem sie ihn vom Laufband gefischt hatte, zog sie ihn zum Ausgang. Gleich neben der Tür bemerkte sie eine Gruppe junger Männer. Einer pfiff ihr anerkennend hinterher, die anderen betrachteten sie anerkennend. Doch Lucy nahm es gelassen. Schließlich sollten Italiener unverbesserlich sein, wenn es darum ging, Frauen mit Blicken zu vernaschen. Das wusste sie von ihrer Mutter. Auch war es nicht das erste Mal, dass man ihr wegen ihrer Modelfigur – wie Paul sagte – bewundernde Blicke schenkte.
Seelenruhig ging sie also in gewohnt spielerischer Anmut an ihnen vorbei und hielt nach einem Taxi Ausschau. Als sie kein freies entdecken konnte, zwängte sie sich in den Shuttlebus, der vom Flughafen in die dreizehn Kilometer entfernte Lagunenstadt fuhr.
Dicht gedrängt mit den anderen Fahrgästen stand Lucy nah bei der Tür und versuchte, während der ruckelnden Fahrt immer wieder einen Blick auf die Umgebung zu erhaschen. Aber der lange Küstenstreifen erwies sich als wenig aufregend. Erst als sie die Brücke erreichten, die Ponte della Liberta, welche die Stadt mit dem Festland verband, erfüllten sich ihre Erwartungen.
Ihr erster Eindruck von Venedig war überwältigend. Ganz tief atmete Lucy ein, als sie die prächtigen Kuppeln und Kirchturmspitzen in der Sonne schimmern sah wie einen himmlischen Traum, der auf dem Wasser schwebte.
Weitaus irdischer dagegen wirkte der Piazzale Roma, der Auto- und Busparkplatz, mit seinen Garagen für die Pendler und Urlauber, die von hier auf dem Wasserweg in die Lagunenstadt weiterreisten. Zwischen all dem Verkehr verkauften Händler noch frisches Obst, kühle Getränke und saftige Kokosnüsse. Direkt neben einem dieser Marktstände war auch Endstation für den Shuttlebus, der jetzt hielt.
Nachdem es Lucy gelungen war, sich mit den anderen Fahrgästen herauszukämpfen, fühlte sie sich wie erschlagen. Das Haar fiel ihr in wirren Locken auf die Schulter, und ihr Kostüm, das in London so elegant ausgesehen hatte, klebte an ihr. Außerdem war es laut, und die Abgase auf dem staubigen Platz stiegen ihr in die Nase.
Erhitzt strich sich Lucy eine Haarsträhne aus der Stirn. Bei der Zimmerreservierung hatte ihr der Angestellte vorgeschlagen, vom Piazzale Roma mit dem Vaporetto , dem Wasserbus des öffentlichen Nahverkehrs, zum Hotel zu fahren. Allerdings überlegte sie schon jetzt, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich abholen zu lassen, da es noch ein ziemliches Stück war bis zur Kaimauer, wo die Boote ablegten. Warum nur hatte sie nicht Signor Candiano sich um alles kümmern lassen, wie er es vorgeschlagen hatte?
Weil sie es nicht leiden konnte, wenn man über sie bestimmte! Seit Paul sich geradezu übereifrig um ihr Wohl kümmerte, war es ihr klar geworden …
Leicht gereizt
Weitere Kostenlose Bücher