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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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einer merkwürdigen Kletterpflanze überwuchert. Die dünnen Verästelungen umspannten die Grabplatte
wie ein altes Fischernetz, und alle paar Wochen trieben winzige Blüten aus, deren gelblicher Farbton ziemlich genau dem unseres Pfirsichshampoos entsprach. Im Winter war davon allerdings
nichts zu sehen. Unter der dicken Schneeschicht sahen sich alle Gräber ähnlich, und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich das richtige gefunden hatte.
    Der Grabstein war aus Granit, niedrig und einfach. Ganz oben war ein kleines Kreuz angebracht. Unsere Familie war seit jeher weder katholisch noch evangelisch noch sonst irgendwie religiös,
aber Vater wollte kein Risiko eingehen. Wenn es nun doch einen Gott gäbe, meinte er, dann könne so ein Kreuz zumindest nicht schaden. Gleich darunter eingemeißelt standen Name,
Geburtsund Todesdatum sowie die Worte Ruh’ Dich aus! Ich trank einen Schluck und sagte den Spruch halblaut vor mich hin. Es klang wie ein Befehl, aber Vater war der Ansicht, dass das
übliche Ruhe sanft! erstens zu kitschig und zweitens zu endgültig wäre, wohingegen in den Worten Ruh’ Dich aus! für ihn zumindest die leise Ahnung einer
nicht näher begründbaren Hoffnung mitschwang. Ich fegte mit dem Ärmel ein bisschen Schnee vom Rand der Grabplatte und setzte mich. Es war so still. Alles lag da wie erfroren. Der
Stein unter meinem Hintern war eiskalt. Doch der Schnaps hatte mich mittlerweile einigermaßen unempfindlich gemacht. Mein Magen bollerte wie ein kleiner Ofen und schützte mich vor der
Kälte und allem anderen da draußen. Ich ließ mich ganz langsam zurückkippen, breitete die Arme aus und schaute in den Himmel hoch. Es schneite jetzt wieder etwas weniger, und
ich versuchte einzelne Flocken mit dem Blick zu verfolgen, bis sie in meinem Gesicht landeten und auf der Haut schmolzen. Zwischen den schwarzen Ästen eines Baumes schimmerte ein Mondzipfel
hervor. Ein Stück darüber tauchte ein einzelner Stern auf, ein winziger, mattsilbriger Punkt. Ich musste daran denken, wie ich manchmal als ganz kleiner Junge unter den Friseurkittel
meiner Mutter gekrochen war. Ich saß dann in dieser duftenden Dunkelheit und fühlte mich geborgen und sicher, und alles war gut. Und jedes Mal, nachdem ich eine Weile so im Dunkeln
gesessen hatte, öffnete sich der Raum über mir und überall blitzten Sterne auf, einer nach dem anderen, immer mehr, Hunderte, Tausende, Millionen, unendlich viele zart funkelnde
Sterne. Es war überwältigend. Unfassbar schön. Die Friseurschürze hatte sich zu einem lichtgesprenkelten Himmelszelt ausgebreitet, und darunter saß ich, ein kleiner
glücklicher Junge, der sich erstaunt im Weltall seiner Mutter umsah.
    Bei diesen Gedanken brach es plötzlich aus mir heraus. Ein heißer Schwall, eine Traurigkeit, ein Schmerz, brennend und tief. Ich schluchzte laut auf, krümmte mich,
schüttelte mich und wälzte mich haltlos auf der Grabplatte herum. Meine Tränen vermischten sich mit dem Schneewasser und liefen mir in dünnen Bächlein über die
Schläfen und hinten in den Kragen hinein. Ich drehte mich auf den Bauch, vergrub mein Gesicht im Schnee und umarmte den kalten Stein. Im gefrorenen Boden unter mir lag der Staub meiner Mutter.
Meiner lieben, lieben Mutter. Ein neuer heißer Schwall stieg in mir hoch und schüttelte mich durch. Ich schlug mit der Stirn gegen den Stein. Und gleich noch einmal. Und noch einmal. Es
war, als wollte ich anklopfen bei ihr. Jeden Moment würde sich die Pforte öffnen, und sie würde mich in ihre Arme schließen, würde mir mit dem Daumen sanft über beide
Wangen streichen und mich unter ihren duftenden, weiten, dunklen Kittel kriechen lassen.
    »Mama!«, rief ich schluchzend und bumste mit der Stirn weiter gegen die Granitplatte. »Mama …!«
    Keine Ahnung, wie lange es dauerte. Irgendwann ging mir die Kraft aus, und ich drehte mich wieder auf den Rücken und blieb einfach so ausgestreckt liegen. Inzwischen hatte es
vollständig aufgehört zu schneien. Am tiefschwarzen Himmel zogen Wolken vorüber. Der Mond schimmerte zwischen den Ästen hervor, und ein paar weitere Sterne waren aufgetaucht.
Plötzlich spürte ich die Kälte. Ich zitterte am ganzen Körper, die Finger waren steif und kalt wie tote Ästchen, der Rotz unter meiner Nase hatte sich zu einem pampigen
Pfropf verfestigt, der Hintern schien mit der Grabplatte zusammengefroren zu sein. Mühsam richtete ich mich auf und kam auf die Beine. Im zertrampelten Schnee lag die

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