Jim Knopf und die Wilde 13
das
weiße Häuschen mit den grünen Fensterläden zu, das einladend und — wie es
schien — friedlich im Schatten der Palmen und Obstbäume dalag. Zunächst
schlichen sie an eines der Fenster heran und spähten vorsichtig hinein. Nichts
war zu sehen, was einem Drachen oder Ungeheuer auch nur im entferntesten
ähnelte. Auf Zehenspitzen gingen sie um das Haus herum und lugten durch das
andere Fenster in die kleine Küche. Auch hier war nichts Verdächtiges zu
entdecken. Jedenfalls nicht auf den ersten Bück. Aber als Jim genauer hinsah...
„Lukas“, wisperte er, „was is’ denn das
da?“
„Was?“
„Da unter dem Sofa guckt doch was raus!
Ich glaub’, es is’ eine Schwanzspitze.“
„Tatsächlich“, raunte Lukas, „du hast
recht.“
„Was machen wir jetzt?“ fragte Jim
leise.
Lukas überlegte. „Wahrscheinlich
schläft das Ungetüm. Wir werden es überrumpeln, ehe es noch recht aufgewacht
ist.“
„In Ordnung“, flüsterte Jim und
wünschte im stillen, das Ungetüm möge einen möglichst tiefen Schlaf haben und
überhaupt erst aufwachen, wenn es an allen Gliedern gefesselt wäre.
Die beiden Freunde schlichen um die
Ecke des Hauses bis zur Tür, die ein wenig offenstand. Schnell und geräuschlos
huschten sie durch das erste Zimmer und traten in die Küche. Vor ihren Füßen
lag die Schwanzspitze, die unter dem Sofa hervorkam.
„Auf eins, zwei, drei!“ flüsterte Lukas
seinem Freund zu. Beide bückten sich nieder, bereit zuzupacken.
„Aufgepaßt!“ raunte Lukas. „Eins — zwei
— drei!“
Im gleichen Augenblick ergriffen sie
beide den Schwanz und zogen aus Leibeskräften daran.
„Ergib dich!“ rief Lukas, so laut und
drohend er konnte. „Ergib dich oder du bist verloren, wer du auch sein magst!“
„Hilfe!“ quiekte eine ganz sonderbare
Ferkelstimme unter dem Sofa. „Gnade! Oh, ich armer Wurm, ich armer Wurm, warum
verfolgen mich alle? Bitte, bitte, tu mir nichts, du schrecklicher Riese!“ Jim
und Lukas hörten auf zu ziehen und blickten sich verblüfft an. Diese Stimme
kannten sie doch! Es war dieselbe, die damals in dem kleinen erloschenen Vulkan
gejammert hatte — es war die Stimme des Halbdrachen Nepomuk!
„Hallo!“ rief Jim und bückte sich, um
unter das Sofa zu sehen. „Wer is’ denn da? Wer hat da eben ,armer Wurm’ gesagt?“
„Donnerwetter!“ fügte Lukas lachend
hinzu. „Sollte dieser arme Wurm am Ende unser Freund Nepomuk sein?“
„Ach“, kam die ängstliche Ferkelstimme
unter dem Sofa hervor, „woher kennst du denn meinen Namen, schrecklicher Riese?
Und warum redest du mit zwei verschiedenen Stimmen?“
„Weil wir kein Riese sind“, antwortete
Lukas, „sondern deine beiden Freunde Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.“
„Ist das wirklich war?“ fragte die
Ferkelstimme zweifelnd. „Oder ist das nur eine Riesenlist, um mich aus meinem
Versteck zu locken? Falls es nur eine List ist, werde ich nicht darauf
hereinfallen, daß ihr es nur wißt! Also sagt mir die Wahrheit, ob ihr es wirklich
seid oder ob ihr nur so tut!“
„Wir sind es wirklich“, rief Jim, „komm
heraus, Nepomuk!“
Da erschien unter dem Rand des Sofas
zunächst ein großer dicker Kopf, der entfernt an ein Nilpferd erinnerte, nur
daß er gelb und blau getüpfelt war, ein Kopf, in welchem zwei kugelige Augen
saßen, die Jim und Lukas forschend anblickten. Als Nepomuk sich davon überzeugt
hatte, daß es wirklich die beiden Lokomotivführer waren, die vor ihm standen,
zog sich sein breites Maul zu einem überraschten und freudigen Lächeln auseinander.
Er krabbelte ganz unter dem Sofa hervor, stellte sich breitbeinig vor die
Freunde hin, stemmte die kurzen Arme in die Seiten und quiekte: „Hurrrrra! Ich
bin gerettet! Wo ist dieser lumpige Riese? Wir wollen ihn sofort zu Mus
zerstampfen!“
„Immer langsam“, sagte Lukas, „der
Riese ist ganz in der Nähe.“
„Hilfe!“ schrie Nepomuk sofort und
strebte wieder unter das Sofa. Aber Lukas hielt ihn fest und fragte:
„Was willst du denn unter dem Sofa,
Nepomuk?“
„Mich verstecken. Der Riese ist nämlich
so riesig, daß er hier nicht reinkommen kann, er kommt gar nicht durch die Tür
und unter das Sofa erst recht nicht. Laßt mich doch los!“
„Aber“, platzte jetzt Jim los, „dieses
Haus gehört ihm doch. Es ist seine Wohnung!“
„Wem seine?“ erkundigte sich Nepomuk
ängstlich.
„Von Herrn Tur Tur, dem Scheinriesen“,
erklärte Jim.
Nepomuk erbleichte, soweit das bei ihm
möglich war. Seine
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