Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Schnabelwinkel, daß Jim das Gefühl nicht los wurde, Geier würden bei kleinen schwarzen Jungen vielleicht doch eine Ausnahme machen … Wenn nun Emma nicht wieder in Ordnung käme, was dann? Dann müßten sie hier blieben, mitten in der Wüste »Das Ende der Welt«, bei diesen scheußlichen Totengräbern, die schon dasaßen und warteten. Lukas und er waren jetzt so fern vo n jeder menschlichen Hilfe und ganz unausdenkbar weit fort von Lummerland. Das sollte also das Ende sein, und nach Lummerland würden sie nie wieder zurückkehren, nie wieder! Als Jim so weit gedacht hatte, überfiel ihn plötzlich ein schreckliches Gefühl der Verlassenheit. Er konnte nicht verhindern, daß ein verzweifeltes Schluchzen in ihm aufstieg. Lukas kroch eben unter Emma hervor und wischte sich die Hände an einem Lappen ab.
»Ist etwas, alter Junge?« fragte er und blickte taktvoll zur Seite, denn er hatte natürlich sofort erkannt, was mit Jim war.
»Nein«, antwortete Jim, »ich hab’ nur… ich glaub’, ich hab’ den Schluckauf bekommen.«
»Ach so!« brummte Lukas.
»Sag mal ehrlich, Lukas«, erkundigte Jim sich leise, »is’ noch Hoffnung?«
Lukas sah nachdenklich vor sich hin, dann schaute er dem Jungen ernst in die Augen und sagte:
»Hör mal zu, Jim Knopf! Du bist mein Freund, darum muß ich dir die Wahrheit sagen. Ich bin so ziemlich am Ende mit meiner Weisheit. Ich kriege nämlich die letzte Schraube nicht auf. Das geht nur von innen. Man müßte in den Kessel kriechen. Aber ich komme da nicht hinein. Ich bin zu groß und zu dick. Tja, das ist eine verflixte Geschichte.«
Jim blickte zu dem Geier auf dem Dach hinauf und zu den anderen Geiern hinüber, die langsam immer näher heranrückten und neugierig ihre nackten Hälse aus den Federkrägen reckten. Dann sagte er entschlossen:
»Ich werd’ hineinsteigen.«
Lukas nickte ernst.
Von nun an ging’s den beiden Freunden natürlich sehr gut.
»Es ist tatsächlich die letzte Möglichkeit. Aber es ist ziemlich gefährlich. Du mußt im Innern des Kessels nämlich unter Wasser arbeiten. Wir dürfen das Wasser nicht ablassen, weil es hier in der Wüste kein neues gibt. Außerdem kannst du dir da drin noch nicht mal leuchten. Du bist ganz auf dein Fingerspitzengefühl angewiesen. Überleg dir genau, ob du es tun willst. Ich könnte sehr gut verstehen, wenn du nein sagtest.« Jim dachte nach. Schwimmen und tauchen konnte er ja. Außerdem hatte Lukas gesagt, es wäre die letzte Möglichkeit.
Es blieb also gar nichts anderes übrig.
»Ich tu’s«, sagte er.
»Gut!« antwortete Lukas langsam. »Nimm den Schraubenschlüssel hier. Ich denke, er wird passen. Die Schraube muß ungefähr da sitzen.«
Er zeigte die Stelle von außen am Boden des Kessels. Jim merkte sie sich genau, dann kletterte er auf den Kessel hinauf. Der Geier auf dem Dach schaute ihm verwundert zu. Plötzlich kam der Mond hinter der düsteren Wolkenbank hervor, und es wurde ein wenig heller. Jeder, der eine Lokomotive kennt, weiß, daß hinter dem Schornstein eine Art Kuppel ist, die aussieht wie ein zweiter, etwas kleinerer Schornstein. Diese Kuppel kann man aufmachen. Dann sieht man einen Schacht, der in den Kessel hinunterführt.
Jim zog seine Schuhe aus und warf sie Lukas zu. Dann kroch er durch die geöffnete Kuppel. Es war sehr eng, und Jims Herz klopfte wie rasend.
Aber er biß die Zähne zusammen und schob sich weiter, die Füße voran. Als nur noch sein Kopf oben heraussah, winkte er Lukas noch einmal zu, dann spürte er Wasser an seinen Füßen. Es war noch ziemlich warm.
Jim holte tief Luft und ließ sich hinunter gleiten.
Lukas stand neben der Lokomotive und wartete. Er war so blaß geworden, wie das bei seiner ruß- und ölverschmierten Haut überhaupt möglich war. Was sollte er tun, wenn Jim etwas zustieß? Er würde tatenlos dabeistehen müssen, denn er konnte ja nicht in den Kessel hineinkriechen. Er wischte sich ein paar kalte Schweißperlen von der Stirn.
Jetzt hörte er im Innern des Kessels etwas rumoren, dann noch einmal. Und plötzlich fiel etwas mit leisem Klimpern zu Boden.
»Da ist die Schraube!« rief Lukas. »Jim, komm zurück!«
Wer aber nicht erschien, war Jim. Sekunde um Sekunde verstrich. Lukas wußte vor Angst um seinen kleinen Freund kaum noch, was er tat. Er kletterte auf die Lokomotive hinauf und schrie durch die Kuppel hinunter: »Jim! Jim! Komm doch heraus! Jim, wo bist du?«
Und endlich erschien das kleine schwarze Gesicht, tropfnaß und nach Luft
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