Jimmy, Jimmy
Art, mit dem man immer einen guten Eindruck macht. Als ich Tom vom Bett nehme, wacht er nicht mal auf. Für einen Augenblick denke ich, was für ein Glück er hat, noch so jung und unschuldig zu sein. Aber natürlich ist es überhaupt kein Glück. Ich hatte Dad wenigstens für sechzehn Jahre. Dafür sollte ich dankbar sein.
Oder nicht?
2
Dad hat Angst. Er steht mit nach vorn geschobenen Schultern und hängenden Armen im Flur. Unter seinem grünen Parka trägt er eins der blauen französischen Trikots, die er immer so geliebt hat. Aber nicht das Glücksbringertrikot von 1998. Das mussten sie ihm nach dem Unfall vom Körper schneiden. Er sieht aus wie ein Schüler, der vorm Büro des Direktors darauf wartet, dass er reingerufen wird, um sich seinen Tadel abzuholen. Solange ich denken kann, hat er seine Haare millimeterkurz geschnitten, aber in den letzten Wochen sind sie gewachsen. Seine schwarz glänzenden wuscheligen Locken sind von Grau durchzogen, aber so lang, dass sie die lange Narbe über der rechten Schläfe verdecken würden, sind sie nicht. Auch die kahle Stelle oben auf dem Kopf ist noch zu sehen, seine Zidane-Tonsur, wie er sie nannte.
»Jimmy ist da«, sagt Mam, und ich sehe, dass sie genauso erschüttert ist wie ich, als klar wird, dass er unser Haus nicht wiedererkennt. »Sieht er nicht gut aus?«
Sie erschrickt, und ich weiß, warum. Es passiert einem immer wieder, dass man mit ihm spricht, als wäre er ein Kind. Aber man kann auch nicht mit ihm sprechen wie mit einem Zweiundvierzigjährigen. Es ist, als müsste man versuchen, eine neue Sprache irgendwo dazwischen zu erfinden.
»Hallo, Jimmy«, sage ich, und schon gehen mir die Wörter aus.
»Guten Tag.« Sein kindlicher Ton gibt mir einen Stich ins Herz.
Seine Stimme klingt unsicher und brüchig. Toms Stirn drückt sich gegen meinen Hals, und ich weiß nicht, ob der Schweiß dazwischen seiner oder meiner ist.
»Ich hol die restlichen Tüten aus dem Auto«, sagt Mam. »Ist Sean da?«
»Muss bald hier sein«, lüge ich und verfluche ihn im Stillen.
»Sean«, sagt Jimmy, und seine Miene hellt sich auf.
Immer wenn wir Sean erwähnen, fragt Dad, wann er ihn treffen kann. Er weiß nicht mehr viel über Sean, außer dass er groß ist und gut im Fußball und dass er Computerspiele mag und solche Sachen. Mam denkt, dass Dad irgendwie die Vorstellung von einem perfekten Kumpel im Kopf hat. Sie hat Sean vorgewarnt, und ich schwöre, dass ich ihn in Stücke reiße, wenn er nicht seine Rolle spielt. Ich wechsle das Thema.
»Tom ist müde, weil er den ganzen Abend herumgetobt hat«, sage ich. »Er kann einen ganz schön auf Trab halten.«
»Wacht er bald auf?«, fragt Jimmy im Flüsterton. »Kann er schon sprechen?«
Im Rehazentrum hat Tom nie einen Laut von sich gegeben. Aber wir haben ihn nicht oft mitgenommen, die Besuche haben ihn zu sehr beunruhigt. Darum hat er Dad seit ungefähr zwei Monaten nicht mehr gesehen.
»Sprechen? Er hört überhaupt nicht mehr auf«, sage ich und merke plötzlich, dass ich Dad gar nicht geküsst habe.Wenn wir ihn in der Reha besucht haben, habe ich das jedesmal getan.
Für mich war dort alles einfacher. Das Begrüßungsküsschen, mit ihm reden, sogar die Spiele. Gleiche Klötzchen finden, um die Hand-Augen-Koordination zu trainieren. Oder Wortspiele wie für kleine Kinder, die ihn wieder zum Sprechen bringen sollten. Unsere Besuche dauerten immer nur ein paar Stunden, und wir waren auch nicht jeden Tag dort. Außerdem wusste man, dass es sozusagen einen Notausgang gab. Es macht mich nicht froh, dass ich meinte, einen zu brauchen, aber so war es. Jetzt gibt es keinen Notausgang mehr. Außer für Sean.
Ich gebe Dad einen Kuss auf die Wange, aber es ist Jimmy, bei dem ich mich auf dem Weg zur Küche mit meinem freien Arm unterhake, nicht mein alter Dad. Ich wünschte mir, ich könnte der Zweijährige sein, der all das einfach nur verschläft. Jimmy geht nicht mehr wie früher. Er macht ein paar Schritte, die perfekt wirken, aber dann zieht er die Schuhspitze für einen Schritt über den Boden. Im Rehazentrum sprachen sie von einer leichten halbseitigen Lähmung. Das Merkwürdige ist, dass mir diese Art zu gehen so vertraut vorkommt. Ich weiß nur nicht, warum.
»Hast du Hunger, Jimmy?«, frage ich.
»Ja«, sagt er, und ich sehe, dass die Küche noch so eine fremde neue Welt für ihn ist. Dabei muss er im Lauf der Jahre wer weiß wie oft darin gekocht haben, meistens in der »Hausfrau-des-Jahres«-Schürze, die er
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