Jimmy, Jimmy
mich wieder los.
Brian berührt meinen Arm. Ich wünschte, ich müsste nicht gehen, aber ich muss.
»Ihnen wird kalt. Ich ruf dich später an, okay?«
Er gibt mir einen schnellen, halb verlegenen Kuss auf die Wange, während sich die Leute an uns vorbeischieben.
»Okay, alles paletti.«
Ohne es zu wollen, beschleunige ich meine Schritte, bis ich renne. Ich war noch nie so glücklich, aber auch noch nieso traurig. Das Rennen hilft mir, zwischen beidem eine Art Balance zu halten. Die Bodenlampen, die links und rechts die Bäume auf dem Weg zum Schultor anstrahlen, schaffen auch eine Art Bühne. Ich überhole ein paar Grüppchen Raucher, die es nicht eilig haben, dann kommt das Tor in Sicht. Mam steht neben einem der Pfeiler mit den Kugellampen. Jimmy sehe ich nur kurz, dann zieht er sich in den Schatten zurück. Mam breitet die Arme aus, obwohl ich zögere. Meine Beine sind wie aus Gelee. Sie hält mich, und ich drücke mein Gesicht in den Kragen ihres Mantels.
»Du warst so gut, Eala. Ich bin so stolz auf dich.«
»Es war das Schwerste, was ich je machen musste, ehrlich«, sage ich und spüre wieder den Schmerz, den ich gespürt habe, als ich mitten auf der Bühne kniend die letzte Strophe von »Somewhere« singen musste. Dass es Dereks Kopf war, den ich hielt, spielte keine Rolle. Ich habe sowieso nicht für ihn gesungen.
»Ich weiß, Liebes, ich weiß«, sagt sie. »Aber du hast es gemacht und hättest es nicht besser machen können.«
»Wird’s dir gut gehen, wenn er weg ist, Mam?«
»Ja, Eala«, sagt sie. »Es wird uns allen gut gehen. Jimmy auch.«
Immer mehr Leute kommen jetzt. Als wir uns loslassen, ist Jimmy wieder aufgetaucht. Er sieht gut aus in dem silbergrauen Hemd und einem neuen Tweed-Jackett, das Mam ihm gekauft hat. Er starrt mich an, als könnte er sich nicht erinnern, wer ich bin.
»Na, Jimmy«, sage ich.
Ein unsicheres Lächeln huscht über sein Gesicht, während er mich von oben bis unten mustert. Er schaut weg, dann schaut er mich wieder an. Und plötzlich weiß ich, wasihn so zögern lässt: Die Theaterschminke muss hier draußen in der Nacht gespenstisch aussehen.
»Du siehst anders aus«, sagt er. »Älter.« Sein Blick wandert hinauf zu den Kronen der Bäume, die eben zu knospen beginnen, und dann wieder herunter zu mir. »Du hast eine wunderschöne Stimme, Eala.«
Informationen zum Buch
Eala ist sechzehn, als das Leben ihrer Familie aus den Fugen gerät. Denn beim Joggen wird ihr Vater Jimmy von einem heranrasenden Fahrradfahrer erfasst. Als er Wochen später im Krankenhaus aus dem Koma erwacht, ist er nicht mehr der, der er einmal war. Er hat den Verstand eines 10-Jährigen, und Eala und ihr Bruder Sean haben von einem Tag auf den anderen ihren Vater verloren. »Dad« gibt es nicht mehr. Nun ist da nur noch »Jimmy«, wie sie ihn nennen sollen, der plötzlich gerne Computerspiele spielt, mehr nascht als je zuvor und in seinen Kindern echte Kumpel sieht, deren Leben er aber nicht mehr versteht.
Informationen zum Autor
Mark O’Sullivan wurde für seine Kinder- und Jugendromane vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bisto Award in Irland, dem Prix des Lecteurs in Frankreich und dem International Youth Library White Raven Award. Für ›Jimmy, Jimmy‹ erhielt er den CBI Book of the Year Award. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
Mark O’Sullivan ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er lebt mit seiner Familie in County Tipperary.
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