Joe Golem und die versunkene Stadt
undeutlich machte wie seine Erinnerungen an die lange zurückliegende Zeit, als das Publikum ihm zugejubelt hatte, als Frauen ihn in Bars einluden und er schmerzfrei vom Bett zur Toilette gehen konnte.
An diesem Morgen wünschte Felix sich nur, dass eine ähnliche Staubschicht sich auf die grässlichen Bilder des Traumes legte, der ihm nicht mehr aus dem Kopf wollte. Was waren die Motive dieses verrückten Okkultisten gewesen, dass er die Frau so schrecklich gequält hatte? Was hatte dieser Wahnsinnige vorgehabt?
Der Traum war Felix wie eine Erinnerung erschienen, doch er wusste, dass es keine war. Es war nur ein Trugbild. Felix lächelte verzerrt. Träume und Trugbilder, Erinnerungen und Fantastereien – die Unterscheidung war eigentlich gar nicht so wichtig. Er, Felix, besaß die Gabe, in die dunklen Winkel des menschlichen Geistes blicken zu können. Außerdem verfügte er über ein gewisses Maß an spiritueller Sensibilität. Aber so etwas wie letzte Nacht war ihm noch nie widerfahren. Ihm war, als hätte er im Bewusstsein eines anderen Menschen geschlafwandelt.
Mit einem Seufzer stellte er sich vor die Toilettenschüssel und erleichterte sich. Dabei massierte er sich das Kreuz und fluchte leise vor sich hin. Wie schwer sich seine Augen anfühlten, wie schwach seine Glieder waren! Als junger Mann hatte Felix gerne Uhren repariert; es war eine Art Steckenpferd gewesen. Die Beschäftigung mit der feinen, winzigen Mechanik bewahrte ihm die Beweglichkeit der Finger, auf die kein Bühnenzauberer wie er verzichten konnte. Wie oft hatte er ein Uhrwerk auseinandergenommen, die Einzelteile gereinigt und geölt und die Uhr dann wieder zusammengesetzt, sodass sie perfekt lief und die winzigen Zahnräder reibungslos ineinandergriffen, leise und auf die Sekunde genau?
Felix lachte krächzend auf. Wenn doch auch sein Körper wie eine Uhr wäre, die ein rühriger junger Mann mit geschickten Fingern zerlegen, ölen und wieder zusammensetzen konnte, damit anschließend alles wie neu war!
»Verdammt«, fluchte er, seufzte tief und achtete darauf, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als er sich bückte und die Toilettenspülung betätigte.
Normalerweise mied Felix den Blick in den Badezimmerspiegel, seit Jahren schon. An diesem Morgen aber schüttelte er den Kopf, als könne er damit seine schlechten Träume vertreiben; dann beugte er sich über das Waschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht.
Schließlich betrachtete er sein Spiegelbild, auf das Schlimmste gefasst.
Zu seinem Erstaunen hielt sein Entsetzen sich in Grenzen. Seine Nase war noch dicker geworden, seine Wangen noch tiefer eingefallen, und die weißen Haarbüschel auf seinem Schädel waren dünner.
In einem Ausdruck wehmütiger Belustigung zog Felix die Mundwinkel nach oben.
Doch kein wandelnder Leichnam , dachte er. Und ganz sicher kein Gespenst.
Er reckte sich erneut und fühlte sich ein bisschen besser. Es gelang ihm sogar, ohne zu schlurfen ins Schlafzimmer zurückzukehren. Zweiundachtzig Jahre auf dieser Erde, und er konnte sich noch immer selbst um sich kümmern, mehr oder weniger zumindest. Das machte ihn halsstarrig und zugleich stolz – aber nicht zu stolz, um sich einzugestehen, dass es ihn auch einsam machte. Nur gab es niemanden, der ihm zuhörte und dem das Gehörte wichtig war.
Bis auf Molly , erinnerte er sich. Aber Molly war ein Kind, und niemals würde er sie mit seinen Altmännersorgen belasten.
Felix nahm die abgetragene graue Hose vom Fußende des Bettes, über das er sie am Abend zuvor gelegt hatte, hielt sie sich an die Nase und sog tief die Luft ein. Nicht schlecht. Das Seltsamste am Leben in dieser versinkenden Stadt war der Umstand, dass sauberer Kleidung eher ein Modergeruch anhaftete als Sachen, die man schon ein- oder zweimal getragen hatte.
Felix zog sich rasch an. Er streifte diegraue Hose über und nahm ein elfenbeinfarbenes gestärktes Hemd aus dem Schrank. Seine Finger waren noch geschmeidig genug, um die Knöpfe ohne Schwierigkeiten zu schließen. Er vervollständigte seine Garderobe mit einem grauen Jackett, das zur Hose passte, und einer tiefroten Fliege.
Natürlich war Felix nicht mehr der schmucke Mann, der ihn von den alten Theaterplakaten anblickte, doch er achtete auf sein Äußeres. Seine Kleidung kam aus zweiter Hand und war ausgefranst und fadenscheinig, aber er pflegte sie und sich selbst und begann jeden neuen Tag mit einem Mindestmaß an Würde. In einer Stadt, die in Schmutz und Elend versank
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