Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
antwortete. Simons Zustand war unverändert. Und die Hunde hatten zu fressen bekommen.
Sie aßen Mittag. Joel schaufelte das Essen in sich hinein. Samuel sah ihn fragend an.
»Ich muss weg«, erklärte Joel. » Heute Abend schon wieder?«
»Wir wollen die Weihnachtsfeier vorbereiten, auch wenn es noch lang bis Weihnachten ist.«
Samuel nickte. Dann seufzte er.
»Die Zeit rennt einem davon«, sagte er.
»Man muss versuchen sie einzuholen«, sagte Joel. Und fragte sich, was er eigentlich damit meinte.
Kurz nach sieben stand er vor ihrem Haus. Er war den ganzen Weg gelaufen. Jetzt stand er da und holte Atem.
Dann ging er durch die Tür.
Jetzt war er sicher.
Heute Abend würde sie ihn in durchsichtigen Schleiern empfangen.
19
Sonja Mattsson öffnete die Tür.
Aber sie stand nicht in durchsichtigen Schleiern da. Stattdessen hatte sie Lockenwickler im Haar. Genau wie Joel sie in Saras Haar gesehen hatte. Unfreiwillig zog er eine Grimasse. Er war so sicher gewesen, dass sie die Tür nackt unter einem Schleier öffnen würde.
»Hast du noch nie Lockenwickler gesehen?«, fragte sie. Joel wurde rot. Er fühlte sich ertappt.
»Doch«, antwortete er. »Die hab ich schon mal gesehen. Aber nicht an dir.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Was hast du denn erwartet?« Joel zuckte zusammen. Sie hatte seine Gedanken gelesen. Er wartete auf die Fortsetzung. Bestimmt würde sie ihm eine Ohrfeige geben und ihn hinauswerfen. Vielleicht würde sie zum Zeitungsredakteur gehen und alles erzählen? Nächste Woche würden es dann alle lesen können.
Joel Gustafsson möchte Gedanken verbieten.
Schleiermane Joel Gustafsson immer noch auf freiem Fuß.
»Willst du da noch lange rumstehen?«, fragte sie. »Es zieht.«
Joel war mit einem Satz im Vorraum.
»Zieh die Jacke aus und komm rein. Aber zieh die Stiefel aus.«
Diesmal versteckte er weder Handschuhe noch seinen Schal. Dann folgte er ihr ins Wohnzimmer. Sie hatte sich gesetzt und die Beine angezogen. Sie trug einen rosa Bademantel. Er sah ein Stück von ihrem Schenkel schimmern. Aber eigentlich traute er sich nicht zu gucken.
Sie nickte zu seinen Füßen. »Keine Löcher in den Socken«, sagte sie.
»Meine Mutter hat sie gestopft«, antwortete Joel. Sie hatte sich eine
Zigarette
angezündet und blies nachdenklich Rauchringe in die Luft. »In diesem Nest reden die Leute viel«, sagte sie.
»Man kann keine Geheimnisse haben«, antwortete Joel. »Die Leute reden«, wiederholte sie. »Über das eine und das andere. Wenn man hinter einem Tresen steht, kriegt man viel Merkwürdiges zu hören. Weißt du, was ich heute erfahren habe? Nachdem du gegangen bist?« Joel schüttelte den Kopf.
»Dass es die Wahrheit ist, was die Frau gesagt hat. Du hast gar keinen Bruder, der Allan heißt. Du hast überhaupt keinen Bruder.«
Sie wirkte nicht wütend, während sie das sagte. Sie lächelte. Freundlich. Joel sah ein, dass er jetzt nur noch eins tun konnte, nämlich die Wahrheit sagen.
»Ich wollte dir Weihnachtszeitschriften verkaufen«, murmelte er. »Da musste ich Allan erfinden.«
Joel erzählte von Otto. Dass er ihm drei Kronen geben musste. Da brach sie in Lachen aus. Immer noch nicht böse. »Alle reden über Joel Gustafsson«, sagte sie, als Joel nichts mehr von den Weihnachtszeitschriften erzählen konnte. »Alles, was sie sagen, stimmt nicht«, antwortete Joel. »Die eine oder andere Wahrheit kommt doch zum Vorschein«, sagte sie. »Aber ich geb dir Recht, die Tanten plappern eine Menge daher, wovon sie keine Ahnung haben.« »Dieses Nest ist voller Klatschbasen«, sagte Joel. »Man kann nicht mal in den Schnee pinkeln, ohne dass es alle erfahren.«
Sie lachte wieder. »Im Augenblick reden alle über dich«, fuhr sie fort. »Alle finden dich sehr tüchtig, weil du diesem alten Mann das Leben gerettet hast.«
»Simon Urväder«, sagte Joel. »So heißt er.«
»Urväder?«
»Ja, Urväder.«
»So möchte ich heißen«, sagte sie. »Das klingt besser als Mattsson.«
»Das klingt auch besser als Gustafsson.«
»Die Leute reden«, sagte sie wieder. »Heute hat also jemand erzählt, dass du gar keinen Bruder hast. Aber sie haben auch gesagt, dass du keine Mutter hast.«
Ich gehe, dachte Joel. Sie weiß alles. Bald kommt auch das mit den Schleiern. Sie kann Gedanken lesen. Nicht nur auf das Gewäsch von Klatschbasen hören.
»Es geht mich ja nichts an«, sagte sie, »aber ich frag mich natürlich, wer deine Socken stopft?«
»Das mach ich selber«, sagte Joel. »Ich kaufe ein
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