Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
Höhe des ersten Schneehaufens stellte Joel dem Windhund ein Bein. Sie fiel rücklings in den Schnee. Dann stürzte er sich auf sie und rieb ihr Gesicht mit Schnee ein. Sie verteidigte sich, sosehr sie konnte. Aber Joel war stärker. Dann steckte er Schnee in ihren Halsausschnitt. Er riss und zerrte an ihr und sie schlug zurück. Er war immer noch nicht wütend. Aber er musste tun, was er tat. »Hör auf«, rief sie. »Spitz den Mund«, antwortete Joel.
Dann drückte er ihren Mund in den Schnee. Er hörte erst auf, als sie anfing zu weinen.
»Jetzt hab ich mich gerächt«, sagte er und stand auf. Ihre Jacke war kaputtgegangen. Sie heulte, als sie wegging. Joel fand es merkwürdig, dass sie nicht lief. Wann sonst, wenn nicht jetzt, müsste sie davonlaufen.
Er begann nach Hause zu gehen. Aber plötzlich kehrte er um und folgte dem Windhund. Jetzt war er es, der lief, und nicht sie.
Er holte sie bei dem alten windschiefen Schuppen ein, in dem Thulins Eisenwarenladen sein Lager hatte. Sie weinte immer noch. Aber Joel merkte, dass es langsam verebbte. Er ging lange neben ihr her, ohne etwas zu sagen. Schließlich hielt er das Schweigen nicht mehr aus. »Das hast du verdient«, sagte er. »Aber ich werd's nicht wieder tun.«
»Ich auch nicht«, sagte sie. »Aber meine Idee ist das gar nicht gewesen.«
Joel blieb stehen. Was sie da gesagt hatte, konnte nicht wahr sein. »Ich dachte, nur wir beide wüssten davon?«
»Fast«, murmelte sie. »Trotzdem hab ich es nicht gewollt.«
»Wer hat es denn gewollt?«
»Die anderen.«
»Aber das hättest du mir doch sagen können?«
»Es tut mir so Leid, dass ich es nicht getan habe.«
Joel starrte auf den Boden. Konnte er es wagen, ihr zu glauben, oder nicht? Es gab nur eine Chance, es herauszufinden.
»Zeig es mir«, sagte er. »Hier und jetzt. Wie man küsst. Dann glaub ich dir.«
»Nicht hier auf der Straße«, sagte sie.
»Wir können hinter das Haus gehen. Da wohnt niemand. Da drinnen gibt's nur Sägen und Äxte.«
«Ein andermal.« »Dann glaub ich dir nicht.«
Sie sah ihn wütend an. »Aber ich hab doch geheult! Dann kann man nicht küssen! Kapierst du denn gar nichts?« Joel wurde sofort unsicher. »Dann warte ich«, sagte er. »Ich muss nach Hause«, sagte der Windhund. »Sonst sind sie böse auf mich.«
»Wann sollen wir es dann tun? Wenn ich dir glauben soll.« »Später«, sagte sie. »Ich verspreche es.«
Und jetzt lief sie. Joel war erleichtert, dass sie sich nicht ganz und gar verkracht hatten. Trotzdem meinte er sich noch nicht ganz auf sie verlassen zu können. Aber er fühlte sich wohler. Und er hatte es ihr heimgezahlt.
Joel ging zurück zum Bahnhof. Guckte nach, ob jemand Kleingeld hinter den Holzbänken verloren hatte. Ein alter Mann saß an der Wand und schlief. Drinnen im Fahrkartenbüro war Bahnhofsvorsteher Knif sauer auf einen Beamten. Joel stellte sich vor den großen Fahrplan an der Wand. Jemand hatte den Namen des Ortes durchgestrichen und mit Bleistift darüber geschrieben:
Hier hält kein Zug. Hier bleiben nur Idioten.
Joel kicherte. Ob Knif das wohl gesehen hatte?
Der alte Mann an der Wand schnarchte. Joel dachte, dass er fast hundert Jahre alt sein musste. Dann war er 1858 geboren. Ungefähr als Wyatt Earp und Doc Holliday die verlassene Straße entlanggingen, um mit Ike Clanton und seinem Anhang abzurechnen.
Joel setzte sich auf eine Bank und pendelte mit den Füßen. Das war auch falsch an den Eltern, dachte er, man darf nicht selbst die Zeit aussuchen, in der man lebt.
Joel wusste natürlich, dass der Gedanke unmöglich war. Er war kindisch. Aber lustig war er.
Hätte er es sich aussuchen dürfen, dann wäre er einer von Fletchers Vertrauten gewesen. Der, der sein Nachfolger werden würde. Da hätte er nicht in einer langweiligen Bahnhofshalle zusammen mit einem schlafenden alten Mann sitzen müssen. Es wäre eine ganz andere Welt gewesen.
In der anderen Welt raschelten Palmen. Dort liefen Frauen in durchsichtigen Schleiern herum.
Jetzt war er wieder hier. Gereizt stand er auf, stampfte und lärmte um zu sehen, ob er es schaffte, den Alten zu wecken. Aber der schlief weiter.
Joel sah auf die Uhr. Es war schon zu spät. Ehnström hatte geschlossen. Und er konnte ja wohl kaum einfach zu ihr nach Hause gehen und an ihrer Tür klingeln. Wo er doch weder Weihnachtszeitschriften zu verkaufen oder nach Handschuhen zu suchen hatte. Außerdem war vielleicht der unbekannte Mann bei ihr. Der ihre Hand gehalten hatte. Das war riskant.
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