Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
wahrscheinlich wieder gesund wird und vielleicht sogar wieder sprechen lernt.« »Simon ist tot«, wiederholte Samuel.
Joel schüttelte den Kopf.
»Er schien auf dem Weg der Besserung zu sein«, fuhr Samuel fort. »Aber dann ist er plötzlich gestorben. Hat aufgehört zu atmen. Und war weg.«
»Aber warum?«
Eine andere Frage hatte Joel nicht. Das war das Einzige, was er denken konnte.
Warum musste Simon sterben, nachdem Joel ihn wie einen Schiffbrüchigen durchs Schneemeer an Land geschleppt hatte?
»Wenn der Tod kommt, stört er immer«, sagte Samuel. Joel spürte eine Faust im Magen. Er dachte an die Hunde. Saßen sie auf der Treppe zu Simons Hütte und heulten? Und die Hühner im Fahrerhaus vom Laster? Wie trauerten sie? »Simon kann nicht tot sein«, sagte Joel wieder. »Ich hab mir seine Gitarre geliehen. Er kann nicht sterben, bevor ich sie ihm zurückgegeben habe.« »Simon ist tot«, sagte Samuel wieder.
Und da begriff Joel es. Simon war wirklich tot.
Später in der Nacht, als er nicht schlafen konnte, kroch er in die Fensternische. Er versuchte sich klein zu machen, damit er Platz hatte. Genau wie früher.
So ist das Leben also, dachte er. Stetig, ohne Unterbrechung. Und die ganze Zeit kann der Tod kommen und stören. Warum wollte er eigentlich hundert Jahre alt werden? In einem Bett draußen im Schnee liegen und sich abhärten? Ich muss mich entscheiden, dachte er. Jetzt, wo Simon tot ist. Ob ich immer weiter kindisch sein will oder nicht. Wenn man das überhaupt selbst entscheiden kann.
Er versuchte eine Antwort zu finden. Aber es gab keine. Schließlich schlief er in der Fensternische ein. Und der Schnee fiel weiter lautlos durch die Nacht.
Geschrieben im Haus am Fluss.
Ich heiße Joel. Mein Vater ist Samuel. Gustafsson ist unser Nachname. An der Wand in dem Haus, in dem wir wohnen, hängt ein Schiff, das Celestine heißt, in einer Glasvitrine. Ich glaube, Celestine sieht aus wie die Bounty. Wir wohnen an einem Fluss, wo niemals Schiffe ankern. Hier treiben nur Baumstämme, das Wasser ist kalt, es gibt auch keine Palmen. Aber im Sommer sirren die Mücken.
Wir wollen nach Pitcairn Island fahren, mein Vater und ich. Ich kann nicht sagen, wann wir kommen, denn ich weiß noch nicht, wann wir fahren. Vielleicht schon, wenn der Schnee weg ist und es Frühling wird? Man kann ja immer hoffen. Gibt es Schnee auf Pitcairn Island? Das kann man auf der Karte nicht erkennen. Aber wenn es Schnee gibt, kann ich meine Skier mitnehmen. Samuel fährt sehr schlecht Ski. Wir haben von eurer Meuterei gelesen und wir finden, dass ihr richtig gehandelt habt. Kapitän Bligh war ein grausamer Mann. Er hat nicht begriffen, was für ein schweres Leben die Besatzung hatte. Wie schwer es sein kann, das Paradies zu verlassen. Wo die Frauen in durchsichtigen Schleiern am Strand herumlaufen und darunter ganz nackt sind. Fletcher war ein Held. Friede seiner Asche.
Wir wollen auf Pitcairn Island wohnen. Gibt es da ein Hotel? Es muss billig sein, denn wir haben nicht viel Geld. Samuel möchte auch wissen, ob es dort eine Schule gibt. Für mich ist das nicht so wichtig.
Samuel kann Bäume im Wald fällen. Das kann er besonders gut. Falls es Wald gibt.
Ich selber, Joel Gustafsson, bin immer noch ziemlich kindisch. Aber ich bin selten im Weg.
Wenn wir kommen, kann eine Frau Samuel ruhig in durchsichtigen Schleiern am Strand überraschen. Mich auch.
Viele Grüße Joel Gustafsson
Geschrieben am 19. Dezember im Jahr der Gnade 1958
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