Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
Gummistiefel in die Hand und glitt lautlos zur Tür hinaus.
Samuel schlief. Sein Schnarchen kam und ging in Wellen. Joel mied die knarrenden Treppenstufen, die vierte, fünfte und zwölfte. Dann schob er die Haustür auf.
Die Nacht war kalt.
Er ging auf den Hof hinaus und sah zum Sternenhimmel auf.
Es war wirklich wie ein richtiger Silvesterabend. Dann ging er durch das Gartentor und weiter auf den Platz zu, den er ausgewählt hatte.
Auf dem Friedhof wollte er seine Gelübde ablegen.
3
Bevor er zum Friedhof ging, hatte Joel allerdings eine andere wichtige Sache zu erledigen. Ein Versprechen, das er sich im letzten Jahr gegeben hatte, aber das er bisher noch nicht eingelöst hatte. Jetzt hatte er noch eine Stunde Zeit dafür. Mit Neujahrsgelübden war nicht zu spaßen. Er dachte, dass Neujahrsgelübde, die man nicht einlöste, sich vielleicht in Neujahrsdrohungen verwandelten. Um Mitternacht war die Zeit um.
Ein ganzes Jahr hatte er die Einlösung dieses Neujahrsgelübdes vor sich her geschoben. Er hatte etwas an sich, das ihm selbst nicht gefiel. Er versprach zu viel. Sich selbst und anderen. Dem Fahrradhändler hatte er versprochen, gleich am selben Nachmittag, als er den Platten gehabt hatte, wiederzukommen und die Reparatur zu bezahlen. Aber dann hatte er es vergessen. Er hatte Samuel versprochen, etwas aus dem Eisenwarenladen abzuholen. Auch das hatte er vergessen. Und es war etwas gewesen, das Samuel bei seiner Arbeit draußen im Wald brauchte.
Auch dieses noch nicht eingelöste Versprechen bereute er. Er hatte es vorschnell gegeben. Aber er dachte, Neujahrsgelübde durfte man nicht brechen. Man hatte ein Jahr Zeit. Nicht mehr. Und jetzt blieb ihm nur noch eine Stunde. Er lief auf lautlosen Füßen durch den stillen Ort. Nicht ein Auto, nicht ein Laut. Nachts war alles anders. Schatten und Straßenlaternen. Der weiße Schnee.
Und Joel lief wie ein ruheloser Geist durch die Straßen. Jetzt hatte er das Große Hotel erreicht. Dort bog er nach links ab und dann wieder nach rechts. Die Uhr im Kirchturm leuchtete. Viertel nach elf. Er nahm die Abkürzung über den großen Hof der Bank und quetschte sich durch den kaputten Zaun auf der Rückseite des Farbgeschäfts. Dann musste er nur noch die Straße hinauf zur Feuerwehrwache aus rotem Holz mit dem hohen Turm gehen, wo die Feuerwehrschläuche hingen.
Es war derselbe Weg, den er jeden Morgen zur Schule ging. Er war mitten in der Nacht zur Schule gegangen.
Als er den Schulhof erreichte, war ihm, als hätte er es klingeln hören. Um ihn herum waren Stimmen. Genau wie es in den Pausen klang. Er meinte sogar seine eigene Stimme zu erkennen. Die er am liebsten nicht hören wollte. Einmal hatte er seine Stimme gehört, die Redakteur Waltin auf seinem Tonbandgerät aufgenommen hatte. Das war zu der Zeit gewesen, als er Zeitungen ausgetragen hatte. Wenn Waltin guter Laune war und wenn man Glück hatte, nahm er die Stimme von einem auf, sodass man sich selbst hören konnte. Joel hatte das Glück gehabt. Aber ihm hatte seine eigene Stimme nicht gefallen. Er sprach durch die Nase. Außerdem klang seine Stimme schrill.
Aber natürlich bildete er sich nur ein, dass noch jemand anders außer ihm auf dem Schulhof war. Er war allein. Und er hatte wenig Zeit.
Das Schlimmste war, dass er Angst vor dem hatte, was er tun musste. Wenn er beim Einbruch in die Schule mitten in der Nacht geschnappt wurde, dann wäre er für allezeit blamiert. Wie Samuel reagieren würde, daran mochte er nicht einmal denken.
Wie hatte er nur dies idiotische Neujahrsgelübde ablegen können? Wie hatte er so blöd sein können?
Ein dummes Gör war er gewesen. In diesem Jahr würde er nicht auf solche Ideen kommen.
Aber das war nun nicht mehr zu ändern. Neujahrsgelübde konnten denken. Die behielten im Auge, wer was versprochen hatte.
Er stand still vor der Schulhausmauer und lauschte. Jetzt hörte er weit entfernt ein Auto. Aber es kam nicht näher. Bald war es wieder so still wie vorher.
Joel hatte sich im Lauf des Tages vorbereitet. In der letzten Schulstunde hatte er im Klassenzimmer herumgetrödelt und heimlich die Haken eines Fensters gelöst. Er hatte ein zusammengewickeltes Stück Papier zwischen Fenster und Rahmen geklemmt, damit es nicht aufflog, falls es anfing zu stürmen. Jetzt kam es nur darauf an, dass der Hausmeister es nicht entdeckt hatte.
Er lief über den Schulhof zu dem barackenähnlichen Anbau, in dem sich sein Klassenzimmer befand. Zog die Fäustlinge aus und tastete
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