Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
war so lange her, dass man es sich kaum noch vorstellen konnte. Aber vielleicht hatte Samuel Recht. Hier würden immer Menschen leben, wo der Fluss eine Biegung machte, ehe er seinen langen Weg zum Meer fortsetzte. Immer wieder würden neue Tote auf dem Friedhof begraben werden.
Joel hatte große Lust, gleich hinter der Pforte stehen zu bleiben. Aber er trieb sich selbst voran. Jetzt war er von Gräbern umgeben. Neben ihm ragte die eine Wand der Kirche wie ein riesiges schlafendes Tier auf.
Als die Kirchenglocken zwölf zu schlagen begannen, zuckte er zusammen. Es klang sehr einsam und sehr laut in der Nacht.
Jetzt war es so weit. Wenn der letzte Schlag verklungen war. Joel presste die Augen fest zusammen. Und dachte an seine Gelübde:
Ich verspreche hoch und heilig, dass ich hundert Jahre alt werde. Um so alt zu werden, muss ich mich abhärten. Damit werde ich in diesem Jahr beginnen. Ich will lernen Kälte und Wärme auszuhalten.
Das war das erste Gelübde. Er hatte drei und ging zum nächsten über:
In diesem Jahr werde ich eine Lösung für Samuels großes Problem finden, das auch mein großes Problem ist. Dass wir nie von hier fortziehen. Dass er nie wieder Seemann wird.
Ehe dieses Jahr zu Ende geht, werde ich zum ersten Mal das Meer gesehen haben.
Das zweite Gelübde. Jetzt war nur noch eins übrig. Es war das schwerste, weil er Angst hatte, jemand könnte seine Gedanken doch irgendwie hören oder ihm ansehen, was er dachte.
Ich werde eine nackte Frau sehen. Irgendwann in diesem Jahr.
Er dachte den Gedanken schnell. Das dritte Neujahrsgelübde. Dann war es vorbei. Jetzt konnte er den Friedhof verlassen. Jetzt konnte er sie nicht mehr brechen. Auf dem Friedhof zu stehen und etwas zu geloben, das war wie mit der Hand auf der Bibel zu schwören. Das hatte er in Büchern gelesen und im Kino gesehen.
Er drehte sich um. Da war die Pforte. Die Straßenlaternen. Das Licht. Es war nicht nötig gewesen, die Zwiebel oder die Kartoffeln zu benutzen. Jetzt konnte er nach Hause gehen und weiterschlafen.
In dem Augenblick bemerkte er, dass er einen Fäustling verloren hatte. Aber er wusste sofort, dass er irgendwo in der Nähe sein musste. Genau hier, kurz bevor er seine Neujahrsgelübde ablegte, hatte er sie ausgezogen. Er hatte eine Streichholzschachtel im Rucksack. Also nahm er den Rucksack ab und suchte nach der Schachtel. Riss ein Streichholz an und leuchtete die Erde ab. Das Streichholz erlosch. Er zündete noch eins an. Da fiel sein Blick auf einen Grabstein neben ihm. Er konnte gerade noch sehen, dass etwas Merkwürdiges auf dem Stein stand, ehe die Streichholzflamme erlosch. Er zündete noch eins an.
Lars Olsson. Geboren 1922, gestorben 1936.
Unter dem Stein lag jemand begraben, der nur vierzehn Jahre gelebt hatte.
Die Flamme erlosch. Plötzlich wurde er von Panik ergriffen. Er nahm seinen Rucksack und lief zur Pforte. Als er sie aufschieben wollte, ließ sie sich nicht öffnen. Sein Herz schlug wild. Außerdem hatte er das Gefühl, hinter ihm keuche jemand. Er riss an der Pforte. Endlich ging sie auf. Joel lief ohne sich umzusehen. Lief, bis er die Kirche und den Friedhof nicht mehr sehen konnte.
Unter der Straßenlaterne vorm Buchladen blieb er stehen. Erst dort drehte er sich um. Aber es war niemand da. Er ging weiter nach Hause.
Jetzt hatte er seine Neujahrsgelübde abgelegt. Das war eine gute Sache. Aber ihm gefiel nicht, dass er diesen Grabstein entdeckt hatte. Daran war der verdammte Handschuh schuld. Verschwundene Handschuhe machten einem immer Probleme.
Warum erfand niemand Handschuhe, die nie verloren gingen?
Joel schlich ins Haus und ging vorsichtig die Treppe hinauf. In der Küche blieb er stehen und lauschte. Samuel schlief. Einige Minuten später war er im Bett. Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Die leuchtenden Zeiger von seinem Wecker neben dem Bett zeigten halb eins.
Jedenfalls war alles gut gegangen. Lars Olssons Grabstein würde er vergessen. Er hatte noch ein Paar alte Fäustlinge. Wenn er sie stopfte, konnte er sie tragen.
Er hatte seine Neujahrsgelübde abgelegt und für ihn hatte das neue Jahr begonnen.
Jetzt hatte er viel zu tun. Wenn er alles in einem Jahr schaffen wollte, musste er gleich morgen beginnen.
4
Als Joel am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich nicht wohl. Ihm war heiß und er war verschwitzt. Außerdem hatte er Halsschmerzen. Samuel kam in sein Zimmer und fragte, warum er noch nicht aufgestanden sei.
»Ich bin krank«, sagte Joel. »Ich hab
Weitere Kostenlose Bücher