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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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ERSTER TEIL
I
    Als die Winter noch lang und schneereich und die Sommer heiß und trocken waren –
    Da stand der schwarzgläserne Büromonolith sinnlos riesig in der Nacht, am Ortsrand von Krölpa, Krölpa an der Unstrut, dahinter die Wälder, die Krölpa nördlich zur Warthe hin abgrenzten, da leuchtete einsam, böse und rot das glutrote Firmenlogo von Arrow PC oben am Dach über dem düsteren Riesen, aus schwarzem Stahl und schwarzem Glas gemacht, die rote Schrift darüber, ein Neubau, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet konzeptioniert, wie die Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren, gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd irgendeinen Vorteil für sich zu verschaffen, am liebsten natürlich in Form von Geld, genau darin aber, in ihrem Kalkül auf Eigennutz, umgekehrt selber kalkulierbar, ausrechenbar und ausbeutbar zuletzt, das war die Basis der abstrakten Geldmaschine, die hier residierte: das Phantasma der totalen Herrschaft des KAPITALS über den Menschen. So falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig wie, wie, wie –
    Mitternacht schlug eine Uhr von fern, eine Stunde später schlug es eins, dann zwei, eine halbe Stunde später, um halb drei, rollte der schwarzlackierte Subaro Sunset Compactor mit den mattschwarz getönten Scheiben langsamauf den Parkplatz von Arrow PC , PC stand hier für Produkte und Consulting, und aus dem Auto kamen die Männer des Reinigungstrupps von Clean Impact einer nach dem anderen herausgestiegen, gingen zum Hintereingang des Hochhauses, der mit einem elektronischen Code und zwei Schlössern gesichert war, die Türe öffnete sich, die Männer gingen ins Haus, dort in den Keller, holten sich aus dem Maintenance-Center ihre grellbunten Putzkarren und machten sich damit an die Arbeit, und in den folgenden Stunden der Nacht gingen die Lichter in dem Bau an, quer durch alle Etagen gleichzeitig, in den einzelnen Zimmern, Zimmer für Zimmer, vom Programm der Weltlichtorgel Timecode gesteuert, überall dort, wo einer der Arbeiter von Clean Impact gerade am Saubermachen war.
    Die Schreibtische in den Büros waren ordentlich aufgeräumt, trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, dass vereinzelt liegengebliebene Gegenstände und Papiere die Aufmerksamkeit des derzeit als Leihkraft auf Stundenbasis bei Clean Impact beschäftigten ehemaligen Produktionsfacharbeiters für Landwirtschaft und Forsten, Henze, 58 , erregten, und Henze folgte dann dem Impuls, sich diesem Objekt kurz zuzuwenden, oder widersetzte sich ihm, je nachdem, wie sehr er in Eile war oder das Gefühl hatte, von Kollegen oder gar dem Chef selbst dabei beobachtet zu werden, wie er eventuell etwas zu lange in einem einzelnen der zu putzenden Zimmer verblieb. Seinem Kunden Arrow PC gegenüber hatte sich Henzes Chef Dan Pog-gart, 45 , ein in Thüringen kurz nach der Wende der Liebe wegen hängengebliebener britischer Ex-Roadie, für Clean Impact informell darauf verpflichtet, datensensible Büroräume von nichtdeutschen Reinigungskräften bearbeiten zu lassen, heute durch die Mitarbeiter Üsküb, Callao, Dobrudsch, Asow und Isjum. Henze war als Ersatzmann für den kurzfristig erkrankten Ismail Khedive eingesetzt, wurde im Hinblick auf die haftungsrechtlichen Sicherheitsvorschriften in den Poggartschen Unterlagen aber nicht als Henze, sondern, wie er selbst auch wusste, als Khedive geführt.
    Im achten Stock kam Henze in das Eckzimmer Sprißler, Leiter KS , und setzte sich auf den Stuhl. Henze war ein ruhiger, schwer gebauter Mann mit großem Kopf, der wegen seiner Freundlichkeit von Schlaueren für dumm gehalten wurde, wegen seiner Langsamkeit von Hektikern für faul. Henze schaute sich das auf dem Schreibtisch aufgestellte Bild der Familie Sprißler an, schaute in den gefüllten Abfalleimer hinein, nahm im Aufstehen den Abfalleimer mit und leerte ihn draußen auf dem Gang in die große blaue Mülltüte. Dann kam er mit dem Staubsauger zurück, ließ den Motor aufheulen und saugte den Boden des Zimmers. An der Ecke des Schreibtischs ging unten eine Schublade auf. Henze war mit dem Rohr dagegengestoßen. Er sah ein Handy auf den dort abgelegten Papieren liegen, nahm es heraus und wog es in seiner Hand. Er dachte an die nackte Brust, die er vor einiger Zeit einmal bei einer Frau in einer Sauna gesehen hatte, an den weißen Klappstuhl auf einem Felsen im Meer, wo ein roter Sonnenschirm darüber aufgespannt

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