Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
in unauffälliger Weise inkompetenten Bürokraten, der mittleren Null, wie sie im gehobenen Management der Regelfall war, aus guten Gründen. »Sie können größere Einheiten nicht von lauter Hysterikern, Charismatikern und anderen Intensitätsspinnern durch die Mühen der Ebene über längere Distanzen hin führen lassen«, hatte Holtrop, selbst der Inbegriff eines solchen Spinners und Charismatikers, gestern Abend bei dem Asspergjubiläum zu dem ihm gegenübersitzenden IFO -Chef Luther gesagt. Aber diese mittleren Normalmanager in ihren mittelhohen Führungsjobs waren nach zwanzig Jahren aufgebraucht, da konnte man nichts Neues mehr erwarten, Thewe war so eine ausgebrannte Null.
Außerdem war Thewe, unverheiratet, alleinlebend und ohne Kinder, vor Jahren wegen einer Alkoholproblematik in Behandlung gewesen. Das könnte in der jetzigen Situation für alle Beteiligten von Vorteil sein. »Wir können die Krankheit nehmen«, sagte Holtrop und deutete auf den Fernseher, wo gerade die pervers aufgedunsene Gestalt von Helmut Qualtinger zu sehen war. »Die Krankheit«, wiederholte Thewe, und als er merkte, dass sein Gesicht heiß wurde, wie er schnaufen musste, dass der Zorn in ihm hochschoss und das Exsudat der Angst, der Schweiß, ihm auf die Stirn trat, sagte er: »Wie meinst du das?« »Ich willdich nicht drängen«, lenkte Holtrop sofort ein, »überleg es dir in Ruhe, sprich mit deinem Anwalt, wir geben die Presseerklärung erst morgen Mittag heraus.« »Gut«, sagte Thewe. Holtrop schaute ihn an, lehnte sich vor, stellte aber nicht die hochprivate Frage, die von dieser Geste anmoderiert war, sondern machte einen den alten Assperg in der firmenüblichen Weise herabsetzenden Scherz über den gestrigen Abend, antwortete damit quasi mit einer etwa vierminütigen Zeitverzögerung auf Thewes Eingangsfrage. Der nahm das Thema auf, es gab dazu ein kleines Gespräch, das Holtrop aber nicht zu lang werden ließ. Er legte die Hände flach auf den Tisch, stand auf, Thewe eine schwere, lange Sekunde später auch. Holtrop streckte ihm die rechte Hand entgegen und sagte: »Du kennst ja das Verfahren. Blaschke wartet in deinem Zimmer auf dich und bringt dich raus. Du kannst mich jederzeit über Frau Rösler oder Dirlmeier erreichen oder auch direkt anrufen. Wir werden eine gute Lösung finden.« An der Türe blieb Thewe nocheinmal stehen, schaute ins Zimmer zurück und fragte: »Türe schließen?« »Ist egal, wie du willst.«
Nachdem Thewe gegangen war, informierte Holtrop seinen Stab, das Büro Brosse, dann die Vorstandskollegen Wenningrode und Ahlers, zuletzt den alten Assperg. »Was haben wir ihm konkret geboten?« fragte Assperg. »Einen Tag Zeit, sich daran zu gewöhnen«, antwortete Holtrop. Assperg bedankte sich, sie legten auf, und Holtrop lehnte sich in seinem Chefsessel weit zurück, schaute zur Decke hoch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er konnte in solchen Momenten der Decke über sich manchmal die Zukunft, die kommen würde, ablesen. Die Decke war weiß. Holtrop fühlte sich gut.
VII
Im kleinen Konferenzraum der SECURO , des Sicherheitsdienstleisters von Assperg, zwei Stockwerke tiefer, war alles bereit für die Strategiesitzung um halb zehn. Kaffee, Wasser, Gebäck und Aschenbecher standen auf dem Tisch, in der Mitte ein Bund alter Dörrblumen. Um an dieser Sitzung teilnehmen zu können, war Thewe am heutigen Freitag ausnahmsweise in Krölpa geblieben. Holtrop hatte sich angesagt. Die seit Monaten laufende interne Untersuchung der Unregelmäßigkeiten bei der Securo, die Krölpavorstand Wenningrode wenig engagiert betrieb, hatte bisher nichts Konkretes erbracht. Securochef Meyerhill, 36 , den Holtrop Anfang des Jahres an Wenningrode vorbei installiert hatte, hatte sich Holtrops Aufklärungsvorhaben zu eigen gemacht und die Arbeit der unabhängigen Leipziger Beratungsfirma Berag gefördert, deren Ergebnisse heute von den beiden Beragchefs Salger und Priepke präsentiert werden sollten. Außer Meyerhills direktem Konkurrenten Sprißler, der als Sicherheitschef eine ganz andere, definitiv klandestine Agenda verfolgte, und Thewestellvertreter Diemers hatte Holtrop die Kommunikationschefin Frau Wiede und deren Stellvertreterin Frau Rathjen zu der Sitzung einbestellt, um die Bedeutung des Aufklärungsvorhabens hervorzuheben, außerdem um die dem Wenningrodelager zugerechnete Abteilung Kommunikation für sich zu gewinnen.
Die Teilnehmer der Sitzung hatten sich rechtzeitig eingefunden und warteten jetzt,
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