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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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akzeptierte. Im richtigen Moment konnte die deprimierende Abgedroschenheit des auf diese Art Dahergeredeten deshalb Wohlbefinden, ein Gefühl von Gefahrlosigkeit, Vertrautem und Vertrauen in gesellschaftliches Gehaltensein hervorrufen, im falschen Moment Abscheu, Ekel, Hass auf die Demenz der Normalität. Thewe war nicht extrem unnormal, aber sozial doch so weit behindert, dass er sich nicht immer an den üblichen Sozialisierungsritualen beteiligen konnte. Über das Ausmaß eigener Gestörtheit lebt der Mensch normalerweise stark imDunklen. Thewe verabschiedete sich, stellte den Kaffeekrug neben die Spüle und ging den Gang weiter.
    Im Gehen nahm er sein Handy aus der Jacke und stellte fest, dass er keinen Netzempfang mehr hatte. Es war das Firmenhandy, er benutzte gar kein anderes. Die Firma hatte ihm also schon zehn Minuten nach dem Rausschmiss das Handy abgestellt. Mitten im Gehen blieb er stehen, drehte sich um und ging wieder zurück. Er wollte zu den IT -Technikern zurückgehen, schaute auf die Uhr, da musste er noch einmal an der Teeküchenversammlung vorbei, teilte seine Verwirrung mit, gestikulierte mit den Händen und murmelte »sorry, sorry«, »kein Problem«, wurde ihm versichert, er nickte und schüttelte den Kopf, und das Kopfschütteln blieb dann bei denen, die ihm hinterherschauten, zurück, und jeder dachte: »Da geht er, der Gestörte, der brutal gestörte Chef.« Thewe ging weiter und nahm den Seitengang links zum inneren Versorgungstrakt, wo Drucker, Lagerräume, Maschinen und Putzmittel untergebracht waren. Die Türe einer Reinigungskammer machte er auf, machte das Licht an. Das Gerät stand wohlgeordnet in offenen Regalen und am Boden, es roch nach Putzmitteln, Thewe betrat die Kammer. Die Türe ging von selber zu. Das Licht an der Decke war hell, seine Grellheit irritierte Thewe. Er machte das Licht deshalb wieder aus, zögerte, dann setzte er sich auf den Boden. Dabei kam ihm diese Bewegung nach unten sofort fehlerhaft vor. Er wollte sich etwas beruhigen, dachte, dass er im Sitzen vielleicht zur Ruhe kommen könnte. Aber die Gedanken wurden, im Gegenteil, im Dunklen immer unruhiger, verrückter, sie erfassten klar die Verrücktheit der Situation, in die er sich hier versehentlich gebracht hatte. Aus dem Schwarz der Finsternis, die er vor sich sah, traten langsam die Regale erkennbar hervor. Panik erfasste Thewe. Er hatte Durst, er wollte rauchen, tastete nach den Zigaretten, wusste aber,dass er hier nicht rauchen konnte wegen des Feuermelders. Er nahm seinen berühmten silbernen Flachmann, über den firmenweit gemutmaßt und gespottet wurde, aus der linken Innentasche seines Jacketts, um einen Schluck Alko-hol zu trinken. Thewe setzte den Flachmann an und nahm einen Schluck. Die Wirkung war gut, der Geschmack des Wodkas beruhigte ihn sofort. Unwillkürlich musste er nicken. Er setzte den Flachmann nocheinmal an und ließ den Wodka in sich hineingurgeln. Er wollte aufstehen, blieb aber sitzen. Zeit verging, und nichts geschah.
    Dann stand Thewe wieder bei den IT -Leuten, die Türe war offen, Thewe ging in das Zimmer, Berstner stand auf, Wonka war nicht da, Thewe machte die Türe zu und sagte: »Eine Frage, Herr Berstner.« »Ja klar.« »Mein Handy geht nicht mehr. Können Sie da etwas machen?« »Kann ich mal sehen?« »Bitte.« Berstner prüfte das Handy mit seinem Computer. »Da ist der Anschluss zentral gesperrt, da kann ich nichts machen.« »Verstehe.« Thewe zeigte auf sein Zimmer gegenüber und fragte: »Kann ich von hier aus telefonieren?« Berstner reichte ihm den Hörer, Thewe winkte ab, Berstner gab ihm sein Handy. »Kann ich das kurz haben?« »Klar«, sagte Berstner, und Thewe: »Können Sie Wenningrode informieren, ich bitte um seinen Anruf, auf Ihrem Handy.« »Mache ich gern, wollen Sie hier warten?« »Nein, ich gehe jetzt in die Sitzung.«
    Das Erstaunen im kleinen Konferenzraum der Securo, den Thewe kurz vor zehn betrat, war für einen Augenblick extrem stark spürbar, wurde dann sofort mit Scherzen überspielt. Holtrop war noch nicht da. Thewe setzte sich. Frau Wiede sagte: »Wir hatten verstanden, Sie kämen gemeinsam.« »Das war auch so geplant«, sagte Thewe. »Und jetzt?« Die Beragberater schauten sich an. Meyerhill machte eine einladende Handbewegung zu Thewe: »Wollen Sie?« Thewe verneinte. »Gut«, sagte Meyerhill, »dann fangen wir an.« Im selben Moment fiel es ihm anders ein, er schickte Frau Rathjen nach oben in das Sekretariat Holtrop mit der Bitte um

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