John Grisham
beiden anderen entging nicht, dass Aggie »er« gesagt hatte und nicht »wir«.
»Du hast doch keine Angst, oder?«, fragte Roger Calvin.
»Ich hab keine Angst, weil ich nämlich nicht zurückfahre.«
»Ich glaub schon, dass du Angst hast.«
»Lass gut sein«, sagte Aggie. »Wir tun Folgendes. Wir warten, bis der Alte wieder im Bett ist, dann fahren wir gemütlich zurück, so nah ans Haus wie möglich, aber nicht zu nah. Wir halten, du schleichst dich die Einfahrt hoch, suchst deinen Geldbeutel, und dann hauen wir ab.«
»Ich wette, in dem Ding ist sowieso nichts drin«, sagte Calvin.
»Und ich wette, da ist mehr drin als in deinem«, gab Roger zurück, während er sich ein Bier aus dem Wagen fischte.
»Lass gut sein«, sagte Aggie erneut.
Sie standen neben dem Wagen, tranken Bier und beobachteten den verwaisten Highway aus sicherer Entfernung. Nach fünfzehn Minuten, die ihnen wie eine Stunde vorkamen, stiegen sie ein, Roger kletterte auf die Ladefläche. Vierhundert Meter vor dem Haus hielt Aggie auf einem flachen Abschnitt der Straße und stellte den Motor ab, damit sie jedes sich nähernde Auto sofort hörten.
»Kannst du nicht dichter ranfahren?«, fragte Roger, als er neben der Fahrertür stand.
»Ist doch gleich hinter der Kurve da vorn«, erwiderte Aggie. »Noch dichter, und er könnte uns hören.«
Die drei blickten auf den dunklen Highway. Hinter den Wolken leuchtete hin und wieder der Mond hervor. »Hast du eine Waffe?«, fragte Roger.
»Ich hab eine«, sagte Aggie, »aber die kriegst du nicht. Du schleichst dich zum Haus, und dann kommst du zurück. Ein Kinderspiel. Der Alte schläft bestimmt längst wieder.«
»Du hast doch keine Angst, oder?«, fragte Calvin voller Anteilnahme.
»Quatsch.« Und damit verschwand Roger in die Dunkelheit. Aggie ließ den Pick-up an und wendete mit ausgeschalteten Scheinwerfern, damit er in Fahrtrichtung stand. Er stellte den Motor wieder ab, und sie kurbelten die Fenster herunter und begannen zu warten.
»Er hat acht Bier intus«, sagte Calvin leise. »Der ist voll wie ein Eimer.«
»Aber er hat sich im Griff.«
»Alles Übung. Trotzdem, vielleicht erwischt ihn der Alte diesmal.«
»War mir ziemlich egal. Bloß wären wir dann auch dran.«
»Warum ist er gleich noch mal mitgefahren?«
»Sei still. Wir müssen auf den Verkehr hören.«
Roger verließ die Straße, als der Briefkasten in Sicht kam. Er sprang in einen Graben und lief geduckt durch ein Bohnenfeld in der Nähe des Hauses. Falls der Alte immer noch Ausschau hielt, würde er sich auf die Einfahrt konzentrieren. Also beschloss Roger, sich von hin ten anzuschleichen. Alle Lichter waren aus. Das kleine Haus lag ruhig da, kein Laut war zu hören. Im Schutz der Bäume kroch Roger durch das nasse Gras, bis er den Ford-Pick-up sah. Er verharrte hinter einem Geräteschuppen, um Luft zu holen, und stellte fest, dass er schon wieder pinkeln musste. Nein, sagte er zu sich selbst, das musste jetzt warten. Er war stolz - er hatte es ohne das geringste Geräusch bis hierher geschafft. Dann packte ihn die Angst - was trieb er hier eigentlich? Er atmete tief durch, duckte sich und schlich weiter. Als der Ford zwischen ihm und dem Haus war, ging er auf alle viere und ertastete sich seinen Weg über den Schotterbelag am Ende der Einfahrt.
Weil der Kies unter ihm knirsc hte, bewegte Roger sich im Zeitl upentempo vorwärts. Er fluchte, als seine Hände nahe dem rechten Vorderrad in Feuchtigkeit langten. Dann fand er seinen Geldbeutel, und mit einem Grinsen steckte er ihn in die rechte Gesäßtasche seiner Jeans. Er hielt kurz inne, machte einen tiefen Atemzug und trat leise den Rückzug an.
In der Stille hörte Mr. Buford Gates alle möglichen Geräusche, auch solche, die nicht real waren. In der Gegend war zurzeit Wild unterwegs, und er nahm an, dass die Tiere auf der Suche nach Gras und Beeren waren. Plötzlich hörte er etwas anderes. Langsam erhob er sich aus seiner Deckung auf der seitlichen Veranda, richtete die Flinte zum Himmel und schoss zweimal in Richtung Mond.
Die Schüsse donnerten in der Ruhe des späten Abends wie Haubitzen, ein unheilverheißendes Dröhnen, das sich meilenweit fortsetzte.
Unten auf dem Highway, nicht weit entfernt, folgte unmittelbar auf die Schüsse das Quietschen von Reifen. Es klang in Bufords Ohren genauso wie das Geräusch, das er zwanzig Minuten zuvor direkt vor seinem Haus gehört hatte.
Die sind noch in der Nähe, dachte er.
Mrs. Gates öffnete die Seitentür.
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