John Sincalir - 0969 - Mandragoros Geschöpf (1 of 3)
hinweg, sah vieles, auch die summenden und tanzenden Insektenschwärme, achtete aber nicht darauf, sondern gab sich voll und ganz ihren Erinnerungen hin.
Sie war regelrecht eingetaucht in die Welt der Vergangenheit. Die beinahe schon zwanzig vergangenen Jahre existierten so gut wie nicht mehr. Ihr kam es wirklich vor, als hätte ihr dieser Fremde erst am gestrigen Tag das Leben gerettet.
Damals war es auch so gewesen. Da hatte sie ebenfalls am Rand des gefährlichen Sumpfgebietes gestanden. Jedem Kind war immer eingeimpft worden, sich nicht hierher zu begeben, aber Kinder die meisten zumindest – waren alle gleich. Sie übertraten gern Verbote, wie es auch Marion getan hatte.
Dann war sie abgerutscht.
Nun stand sie wieder hier.
Den Blick hielt sie jetzt gesenkt, als wollte sie noch den Abdruck ihrer Füße suchen, den sie hier einmal vor Jahren hinterlassen hatte. Er war natürlich nicht mehr zu sehen und existierte höchstens noch in ihrer Einbildung.
Wie damals konnte sie auch heute das Wasser schlecht erkennen. Es war kein kleiner Tümpel, er bedeckte schon eine größere Fläche, aber braunes Sumpfwasser sah sie nicht, sondern nur das Grün der winzigen Blättchen und zahlreichen Algen, die auf der Oberfläche lagen wie eine Decke.
Tückisch, denn sie verbarg die eigentliche, unter ihr liegende Gefahr. Das Wasser drückte sich in den Sumpf hinein. Es bedeckte ihn nicht an allen Stellen, aber wo es sich ausbreitete, da bildete seine Oberfläche eben diese grüne Decke, nur hin und wieder von hohen Gräsern oder krüppeligen Niedrighölzern durchstoßen.
Das Wasser war nicht tief. Man konnte stehen. Zuerst jedenfalls noch. Selbst ein normal gewachsenes Kind schaute noch hervor, aber der Untergrund war gefährlich und riß seine Opfer in die Tiefe.
Langsam, aber stetig ging es dem Tod entgegen. Da war ein Entrinnen unmöglich, denn es gab nichts, woran man sich hätte festhalten oder herausziehen können.
Die Bäume mit den niedrigen Zweigen oder Ästen bildeten ebenfalls keine Rettung. Zwar ragten sie über die Sumpffläche hinweg, das war auch alles. Wer es trotzdem schaffte, sich an ihnen festzuklammern, würde sehr bald merken, wie schwach sie letztendlich waren, denn sie zerbrachen schon bei dem leichtesten Druck.
Marion erinnerte sich. Sie lächelte dabei. Grundlos, die Lippen zuckten einfach in die Breite. Schon einmal hatte sie hier gestanden, dann war sie abgerutscht – oder freiwillig gegangen? Genau wußte sie das nicht, jedenfalls hatte sie der Sumpf plötzlich gelockt, und das war auch hier der Fall.
Wenn sie nach links schaute, sah sie die Erlen am Rande wachsen. Sie gaben ihr einen Sichtschutz.
Ihre grauen Stämme mit der grünen Moosschicht darauf wirkten wie gefärbtes Gebein.
Vor ihr war es nicht still. Im Wasser und unter der Oberfläche gab es zahlreiche Bewegungen. Frösche und kleinere Fische hatten hier den idealen Lebensraum gefunden. Insekten ließen sich auf der Wasserfläche nieder, bis sie von irgendwelchen Mäulern geschnappt wurden. Frösche hatten ihre Plätze auf Blättern gefunden. Ihr Aussehen verschmolz mit der Umgebung. Die Tiere waren nur zu sehen, wenn sie plötzlich herumsprangen und mit einer eleganten Bewegung in das Wasser eintauchten.
Eintauchen, das war es!
Marion Kline spürte diesen Drang ebenfalls. Sie brauchte nur einen Fuß nach vorn zu setzen, um den schmalen Abhang hinunterzurutschen. Kaum länger als einen Meter zählte die Schräge.
Tu es! Tu es!
Das war nicht sie. Das war eine andere Stimme. Nur war sie nicht genau in der Lage, dies zu unterscheiden. Ihre Hände bewegten sich. Die Finger schlossen sich zu Fäusten. Der Schweiß trat ihr aus den Poren, und sie wußte nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Auf der einen Seite sagte ihr der Verstand, daß es unsinnig war, wenn sie den schmalen Hang hinabrutschte, auf der anderen Seite lockte da eine Kraft, die stärker war als ihr Ego.
Nie hätte sie gedacht, daß sich im Leben etwas wiederholen könnte. Für sie war alles einmalig, und so hatte sie es auch erlebt. Eine Karriere, die immer mehr nach vorn gerichtet war. Marion gehörte zu denjenigen, die es geschafft hatten, denn Hindernisse existierten für sie so gut wie keine.
Sie zögerte noch.
Denk daran, ich habe dir das Leben gerettet!
Da war die Stimme wieder. Der Befehl in ihrem Kopf. Die Aufforderung, endlich etwas zu unternehmen. Weiterzugehen, hineinzutauchen, nicht mehr zurückzuschauen. Das Leben einfach hinter sich zu lassen
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